Noëlle von Wyl, Lea Weniger, Barbara Windholz
Kinder erkunden die lokale Baukultur
Ein Unterrichtskonzept für baukulturelle Vermittlung
ISBN Print: 978-3-0355-1971-6
ISBN E-Book: 978-3-0355-1972-3
1. Auflage 2022
Alle Rechte vorbehalten
© 2022 hep Verlag AG, Bern
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Ich möchte, dass meine Kinder die Welt verstehen, aber nicht nur, weil die Welt faszinierend ist und der menschliche Geist neugierig ist. Ich möchte, dass sie sie verstehen, damit sie in der Lage sind, sie zu einem besseren Ort zu machen.[1]
Horward Gardner
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INHALTSVERZEICHNIS
Die Schule der Wahrnehmung – ein Vorwort
1. PROJEKTBESCHREIBUNG
1.1 Einleitung
1.2 Bewusstseinsbildung für die Umweltgestaltung
1.3 Problematik und Ziele
1.4 Baukulturelle Bildung – Intention und Lerngegenstand
1.5 Untersuchungen zur baukulturellen Bildung
1.6 Berücksichtigung bisheriger Ergebnisse
1.7 Konzeptuelle Grundlagen und Ziele des Unterrichtskonzepts
2. ENTWICKLUNG DES UNTERRICHTSKONZEPTS
2.1 Einleitung zur Praxisforschung
2.2 Modell «Baukulturelle Allgemeinbildung»
2.3 Unterrichtsstruktur, Lerninhalte und Didaktik
2.4 Erprobung und Evaluation des Unterrichtskonzepts
3. PRAXISBEISPIELE
Themenbereich 01 – Farbe und Form
Praxisprojekt: Oberfläche mit Tiefenwirkung
Praxisprojekt: Changierende Faltfassade
Themenbereich 02 – Material und Oberfläche
Praxisprojekt: Bausteine für ein Haus
Praxisprojekt: Multifunktionale Feuerstelle
Exkurs: Kopfkarten veranschaulichen Raumvorstellungen
Themenbereich 03 – Massstab und Dimension
Praxisprojekt: Häuser für Käfer und Giraffe
Praxisprojekt: Imaginative Räume
Themenbereich 04 – Licht und Schatten
Praxisprojekt: Lichtbühne am Wasser
Praxisprojekt: Stadtlichter bei Nacht
Praxisprojekt: Lichtinstallation im Tunnel
Exkurs: «Häuser sprechen mit dir!» – Transdisziplinäre Ansätze
Themenbereich 05 – Öffnung und Transparenz
Praxisprojekt: Farbiger Lichteinfall
Praxisprojekt: Einblicke und Ausblicke
Themenbereich 06 – Innen und Aussen
Praxisprojekt: Kaleidoskopische Räume
Praxisprojekt: Experimentelle Räume
Exkurs: Kreativität und baukulturelle Bildung
Themenbereich 07 – Schmuck und Ornament
Praxisprojekt: Ein Traumschloss bauen
Praxisprojekt: Dreidimensionale Fensterbilder
Themenbereich 08 – Statik und Konstruktion
Praxisprojekt: Ein Dach über dem Kopf
Praxisprojekt: Wandelemente für ein Spielhaus
Exkurs: Baukulturelle Bildung in der Schweiz
4. PROJEKTAUSWERTUNG
4.1 Einleitung
4.2 Projektbegleitende Auswertung
4.3 Fragebogenerhebung und summative Auswertung
4.4 Fazit
5. SCHLUSSBETRACHTUNG
ANHANG
Kompetenzmatrix
Glossar
Quellenangabe zu den Architekturbildern
Über das Projekt
Die Autorinnen
Textbeiträge
DIE SCHULE DER WAHRNEHMUNG
– EIN VORWORT | Roland Reichenbach
Manchmal behaupte ich, ich würde mich für Architektur interessieren. Gelogen ist es zwar nicht, wenn ich dann aber mein baukulturelles Wissen so richtig ernsthaft in die Mangel nehme, muss ich zugeben, dass ich es in diesem Bereich nicht so weit gebracht habe, wie ich mir vielleicht vorgaukle. Immerhin kann ich beispielsweise Bauernhäuser des Berner Oberlands von solchen aus dem Emmental, Entlebuch, Jura, Wallis oder Graubünden unterscheiden – von aussen. «Holz oder Stein?» ist dazu schon eine hilfreiche Ausgangsfrage. Müsste ich aber sagen, was diese Häusertypen im Innenbereich unterscheidet, so ist leider nicht sicher, ob ich eine einzige zutreffende Aussage machen könnte. Bisher bin ich auch ohne diese spezifische Unterscheidungskompetenz durch das Leben gekommen. Was kümmert es mich also?
Die gebaute Welt ist vergleichsweise beständig. Manche wohnen in Häusern, in denen schon Generationen zuvor Menschen gewohnt haben. Das sind die alten Häuser. Die Bewohnerinnen und Bewohner, selbst wenn sie das Haus besitzen, entwickeln vielleicht ein Gefühl dafür, dass sie in diesem Haus im Grunde nur vorübergehende Gäste sind; dem Anschein nach werden auch sie von diesem Gebäude überlebt werden. Solche Häuser mögen gefallen oder nicht, doch um sogenannte «Bausünden» handelt es sich höchstwahrscheinlich nicht. Schult man seinen Blick ein wenig, so entdeckt man erstaunlich viele kleine und grosse Bausünden. Doch baukulturelle Bildung, um die es in diesem Buch geht, will Kinder beziehungsweise Schülerinnen und Schüler in erster Linie für das ganze Spektrum der gebauten Umwelt sensibilisieren und sie in der Wahrnehmung ihrer Lebenswelt fördern. Baukulturelle Bildung ist Wahrnehmungsschulung. «Sehen kommt vor Sprechen. Kinder sehen und erkennen, bevor sie sprechen können» (Berger, 2016, S. 7), meinte John Berger. Doch die Welt wird von Beginn des Lebens an nicht nur gesehen, sondern auch gehört, gerochen, ertastet und geschmeckt. Dies trifft auf die natürliche, die soziale sowie die gebaute Umwelt zu. Die fünf Körpersinne ermöglichen nicht nur von Anbeginn einen Zugang zur Welt, sondern lassen uns uns auch als Leib selbst erleben. Doch die Metaphorik der Sprache verweist vielfältig auf die fundamentale Bedeutung aller fünf Sinne für unsere Weltbezüge; so ist manches nach unserem «Geschmack», manchmal sind wir unangenehm «berührt», auch wenn dies uns vielleicht zu bestimmten «Einsichten» verhilft, und mitunter müssen wir Personen «gehorchen», die wir nicht «riechen» können.
Das griechische aísthēsis bedeutet bekanntlich «Wahrnehmung». Ein bedeutsamer Aspekt der menschlichen Entwicklung und Bildung ist Wahrnehmungsschulung, also letztlich ästhetische Bildung. Es geht darum, mehr, bewusster, anders und feiner beziehungsweise differenzierter wahrzunehmen. Hierzu ist Wissen nicht nur hilfreich, sondern notwendig. Wer mehr weiss, kann auch mehr wahrnehmen, das trifft auf die natürliche, die soziale und die gebaute Umwelt gleichermassen zu. Wer sich in Flora und Fauna ein wenig auskennt, erlebt auf einem Spaziergang durch den Wald sehr viel mehr, als wer nur Gräser von Bäumen und Vögel von Säugern unterscheiden kann. Wer über sich und die anderen viel nachgedacht hat, versteht sich und seine soziale Umwelt besser. Sein Erleben ist tiefer, breiter und nachhaltiger. Wer sich aber (auch) für die gebaute Umwelt, das heisst die menschliche Baukultur, zu interessieren vermag, der oder die erfährt nicht nur objektives Wissen über Häuser, Brücken oder Bollwerke, über Baustile und Baumaterialien, sondern erhält zunächst nur stillschweigend und dann zunehmend Einblicke in die conditio humana: Der Mensch ist als homo faber ein baukulturelles Wesen, er «baut» sich seine Umwelt, in der er wohnt, arbeitet, überhaupt die meiste Zeit seines Lebens verbringt. Baukultur, zuallererst in ihrer Erscheinungsform als Behausung, könnte als die «zweite Haut» des Menschen bezeichnet werden. Sie nicht nur in ignoranter Weise zu nutzen oder nur am Rande zur Kenntnis zu nehmen, sondern sie bewusst wahrzunehmen, verstehen und beurteilen zu können, das heisst, sich zu ihr in ein Verhältnis setzen zu können, ist ein bisher noch sehr vernachlässigtes Bildungsziel. Diese Form der Bildung fokussiert nicht auf Verfügungswissen, das heisst konkrete Handlungskompetenzen, mit denen Menschen nach Gusto in der Welt hantieren können, sondern auf Urteilskompetenzen und Orientierungswissen, die in der zeitgenössischen Bildungsdiskussion unterschätzt und wenig berücksichtigt sind. Menschen sind nicht nur «Handlungssubjekte», Kinder und Jugendliche wie auch Erwachsene müssen nicht nur Handlungskompetenzen erwerben, sondern die Welt, in der sie leben, verstehen, damit sie sich selbst verstehen, verorten können (Taylor, 1985).
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