Den Bezug zur Ästhetik stellt auch Roland Reichenbach (2021) in seiner bildungstheoretischen Annäherung an die baukulturelle Allgemeinbildung her. «Baukulturelle Erfahrungen sind auch ästhetische Erfahrungen. ‹Ästhetische Erfahrungen› ermöglichen ‹einen Zugang zum Wirklichen› (…), hierbei spielen nicht nur die sinnlichen Wahrnehmungen, sondern auch die sinnlichen Vorstellungen die zentrale Rolle» (Reichenbach, 2021, S. 65). Baukulturelle Bildung ermöglicht eine Auseinandersetzung mit den Erscheinungen der gebauten Umwelt, indem der Anblick von Architektur die eigenen ästhetischen Vorstellungen bestätigt oder auch dazu führt, Dinge in einem anderen Licht zu sehen. Architektur, besonders zeitgenössisches Bauen, ist für Kinder, Jugendliche und selbst für Erwachsene meist nicht auf Anhieb verständlich und wird wohl auch deshalb oft abgelehnt. Gebäude die Architekten und Konstrukteurinnen für bedeutungsvoll halten, sind für Schülerinnen und Schüler – und nicht nur für sie – manchmal erklärungsbedürftig.
Ungewohnte Sichtweisen erfordern eine unvoreingenommene Wahrnehmung und basale Kenntnisse formaler Prinzipien und Gestaltungsgrundlagen. Dazu gehören beispielsweise Formkonzepte und Farbtheorien, Statik und Konstruktion oder Licht und Schattenwirkung, wie sie in diesem Buch praxisnah thematisiert werden. Mithilfe dieses Wissens wird es eher möglich sein, auch ungewohnte Bauwerke und Anlagen zu betrachten, einzuordnen und zu beschreiben.
Betrachtungs- und Gestaltungsfähigkeit setzen eine ästhetische Bildung im Sinne einer sinnlich vermittelten Wahrnehmung kulturell und historisch bedingter Erscheinungen voraus. Dabei ist eine Balance zwischen Theorie und Praxis in der Vermittlung der Grundlagen bedeutsam. Kinder und Jugendliche müssen diese Fähigkeiten in handelnder und verstehender Ganzheit und Gegenseitigkeit erlernen, um die sinnliche Wirkung von Oberflächen, Materialien, Farben und Formen begreifen zu können. Architektur, Kunst und Design sind weder als reine Praxis noch als reine Theorie vermittelbar. Wenn sich Kinder und Jugendliche in Baukultur bilden, bedeutet das daher sowohl intellektuelles Erkennen, emotionales Empfinden als auch gestalterisches Handeln.
Diese Bildungsperspektiven finden sich auch in den Lernzielen, die im Rahmen von Forschungsprojekten der Wüstenrotstiftung[8] für Deutschland definiert wurden. Im Zentrum der baukulturellen Bildung steht dabei die Förderung der Begriffs- und Kommunikationsfähigkeit sowie der Wahrnehmungs- und Gestaltungsfähigkeit von Schülerinnen und Schülern. Das Ziel ist, ein breites und zielstufenspezifisches Verständnis für baukulturelle Belange zu etablieren. Die im Folgenden aufgeführten Lernziele der baukulturellen Bildung beziehen sich auf die Zielformulierung des Union International Education Network UIA sowie die Projekte der Wüstenrotstiftung (Million et al., 2019). Die Autorinnen dieser Publikation formulieren diese wie folgt:
•ein sinnliches Bewusstsein für private und öffentliche Räume entwickeln;
•Sensibilität, Fantasie und eigene ästhetische Vorstellungen bilden;
•gestalterische Fähigkeiten und Fertigkeiten erlernen und anwenden;
•Problemlösungsverfahren kennen und Prozesse erfahren;
•Techniken und Materialien kennen und damit experimentieren;
•Bau- und Handwerksinteresse entwickeln und Handlungen nachvollziehen;
•Ideen und Optionen erforschen, darstellen und umsetzen;
•im Team arbeiten und kreative Lösungswege finden;
•Präsentations- und Argumentationsfähigkeiten entwickeln;
•traditionelles und zeitgenössisches Bauen kennen und schätzen;
•Zusammenhänge zwischen gebauter und natürlicher Umwelt verstehen;
•das Vokabular kennen, um über Baukultur diskutieren zu können;
•Rollen, Rechte und Verantwortlichkeiten von Bauleuten und Öffentlichkeit kennen;
•Baukultur als Aufgabe von Forschung und Entwicklung anerkennen.
Die Vielfalt der Lernziele zeigt es: Die gebaute Umwelt ist nicht nur ein Lebensort, sondern auch ein bedeutender Lernort mit Förderungspotenzial. Kinder und Jugendliche wachsen in städtischen oder ländlichen Umgebungen auf, die aufgrund des demografischen Wandels sowie der technologischen und digitalen Entwicklung in Veränderung begriffen sind. Historisch gewachsene Strukturen und Orte erfahren Umstrukturierungen. Vertraute Treffpunkte, wie Plätze und öffentliche Räume, werden erneuert; Desorientierung unter Jugendlichen und auch Erwachsenen kann die Folge sein. Auch präventive Aspekte im Hinblick auf die Zugehörigkeit zu einem bestimmten sozialen und räumlichen Gefüge sprechen dafür, Kinder und Jugendliche für Umweltveränderungen und Umweltgestaltungen zu sensibilisieren und sie, wo immer möglich, auch daran zu beteiligen. Die Qualitätskriterien des Bundesamts für Kultur unterstützen diese Bildungsbestrebungen, denn eine «hohe Baukultur (…) fördert die Verbundenheit mit dem Ort», stärkt die «Identität und Unverwechselbarkeit» und berücksichtigt «das Bedürfnis nach positiver ästhetischer Wertschätzung und einer erfüllenden Beziehung zwischen Menschen und Ort» (BAK, 2021, S. 23). Baukulturelle Bildung fördert somit die Sozialkompetenz im Sinne der Fähigkeit, sich in der Gesellschaft aktiv einzubringen (D-EDK, 2016b, S. 3).
1.5 Untersuchungen zur baukulturellen Bildung
Baukulturelle Bildung als bildungspolitische Aufgabe hat in den vergangenen Jahren stark an Bedeutung gewonnen. Seit der Jahrtausendwende wurden in europäischen Ländern wie England, Frankreich, Deutschland und Österreich Studien zur Förderung dieses Bildungsbereichs durchgeführt. Dennoch wird baukulturelle Bildung im Forschungszusammenhang zu wenig diskutiert (Million, Heinrich & Coelen, 2016). Angela Million und ihr Team kamen im Rahmen einer Untersuchung von mehreren baukulturellen Projekten im städtischen Umfeld und Interviews mit Kindern und Jugendlichen von acht bis 18 Jahren zum Schluss, dass die Diskussion über eine allgemeinbildende Baukultur notwendig sei, um junge Menschen für Stadtplanungsprozesse interessieren zu können. Die Forderung mündet in Umsetzungsvorschlägen wie «vielfältige Settings baukultureller Bildung kultivieren», «baukulturelle Bildung in der Schule verankern», den «gesamten (Stadt-)Raum als Bildungsraum nutzen», «familiäres Lernen berücksichtigen», «Zugänge über Materialien und Werkzeuge eröffnen», «digitale Lernwelten erschliessen», «baukulturelle Bildung mit Beteiligung verbinden», «Anleiterinnen weiterqualifizieren» (d. h. Weiterbildungsangebote für Lehrpersonen und weitere Interessierte) oder «baukulturelle Bildungsangebote politisch fördern» (Million et al., 2019, S. 209 ff.). Insgesamt definiert die Studie vielseitige Handlungsfelder, die auch für andere Länder von Bedeutung sind.
Mit ihrer an der Natur orientierten Architektur und organischen Formensprache haben die Architekten Eliel Sarinnen (1873–1950) und Alvar Aalto (1898–1976) wesentlich zur finnischen Identität und dem damit verbundenen hohen Stellenwert der baukulturellen Qualität beigetragen. «Der Schlüssel zum Architekturverständnis», so zitiert Turit Fröbe aus dem architekturpolitischen Programm, «liegt vorrangig bei der Kunsterziehung sowie bei den umweltbezogenen Fächern, die die Belange der gebauten Umwelt einbeziehen» (ebd., S. 45). Die Architekturhistorikerin untersuchte 2018 im Rahmen einer Feldstudie an der Universität der Künste in Berlin die Auswirkungen der architekturpolitischen Massnahmen von 1998 in finnischen Bildungsinstitutionen beziehungsweise inwiefern diese Form der «Architecture Education» für andere Länder wegweisend sein könnte. Fröbe stellte fest, dass baukulturelle Bildung – nach einer anfänglichen Euphorie vor gut 20 Jahren – heute in den öffentlichen Schulen nicht mehr gelehrt wird als anderswo in Europa. Obgleich es in Finnland diese Programme gab, wurde offensichtlich zu wenig in die Koordination der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen investiert. Ein Problem besteht auch in der «Streichung des obligatorischen Architekturkurses», der im Rahmen des Kunstunterrichts in der Klassenstufe 1–7 stattgefunden hat (ebd., S. 65). Fröbe hält fest, «dass der Architekturunterricht an den Schulen auch aufgrund des Mangels an Lehrmitteln unzureichend sei» und kommt zum Schluss, schulische Projekte bedürften in der Vermittlung «einer gewissen Sinnlichkeit […], damit sie nicht abschreckend wirken» (ebd., S. 45). Deshalb empfiehlt sie baukulturelle Bildung für die Lehrenden «einfach» zu machen, weil Lehrpersonen sonst baukulturelle Inhalte nicht unterrichten würden (ebd., S. 156). Auf strategischer Ebene sollen darüber hinaus, «baukulturelle Leitlinien» entwickelt werden, die als «zentrale Bestandteile von Kunst und Kultur» gelten (ebd., S. 177). Es müsse ein Netzwerk aufgebaut werden beziehungsweise «es bedarf Akteurinnen und Akteure nach dem Vorbild des finnischen Special Advisors for Architecture im National Council for Architecture, welche die architekturpolitischen Massnahmen kommunizieren und als Ansprechpartnerinnen und -partner sowie Beraterinnen und Berater fungieren» (ebd., S. 67). Eine Implementierung der Vermittlung von Baukultur in den Schulen brauche zudem – etwa alle drei oder vier Jahre – einen Evaluationsprozess, um die Leitlinien einer regelmässigen Revision zu unterziehen (ebd., S. 178).
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