Als er auf der Hauptwache eintraf, stand sein ihm unterstellter Kollege Olaf Köppcke im Flur und unterhielt sich mit einer Kollegin. Als der junge Polizist seinen Vorgesetzten kommen sah, löste er sich aus dem Gespräch und kam schnellen Schrittes auf ihn zu. „Moin Chef!“, Hansen nickte ihm zu: „Guten Morgen Köppcke, was gibt’s Neues?“ Köppcke holte seinen Notizblock aus der Tasche, „Tankstellenraub im Knooper Weg. Der Täter ist während der Nachtschicht mit vorgehaltener Waffe in den Tankstellenshop gestürmt, hat knapp 700 Euro erbeutet und hat sich dann zu Fuß vom Tatort entfernt.“ „In der Nachtschicht? Haben die keinen Nachtschalter?“ „Doch, aber der Täter hat sich einen günstigen Zeitpunkt ausgesucht – Tankstelle wurde gerade betankt und während der Betankung lassen die bei den Tankstellen wohl immer die Türen auf, damit die Fahrer auf Klo gehen, Kaffee trinken u.s.w. können. Zum Zeitpunkt des Überfalls war der Tanklasterfahrer auch tatsächlich im Shop und hat sich vor Schreck übel an seinem Kaffee verbrüht.“
Hansen ließ sich den Bericht geben und ging damit in sein Büro am Ende des Flurs. „Tankstellenraub ... 700 Euro“, er schüttelte traurig den Kopf. Auch nach vielen Jahren im Beruf deprimierten ihn immer noch die vergleichsweise kleinen Beträge, für die Menschen kriminell wurden. Sicher, 700 Euro waren kein kleiner Betrag, aber dafür eine Gefängnisstrafe riskieren?
Der Bericht gab nicht viel her – der Täter war einfach in guter alter Wild-West Manier in den Shop gestürmt, hatte eine Waffe gezogen und lautstark unter Gewaltandrohung die Kasse geplündert. Die bedauernswerte, junge Verkäuferin, eine 21-jährige Sozialpädagogikstudentin namens Nora Bock, hatte den Job in dieser Woche erst angenommen und in der Tatnacht ihre erste Schicht alleine bestritten. Sie machte auf die Beamten einen vollkommen zerrütteten Eindruck und ihr war eine psychologische Betreuung zugewiesen worden. Dem Bericht lagen CDs mit Kopien der digitalen Überwachungsfilme bei und der Komissar wollte gerade zum ersten Mal seinen neuen Dienstcomputer anschalten, als es klopfte und sein Kollege ins Büro stürzte. „Zur Tankstellensache hat sich ein Augenzeuge gemeldet, der meint den Täter an Klamotten und Bewegungen erkannt zu haben. Er sagt, er habe ihn schon öfter um die Tankstelle herumstromern sehen und kennt ihn flüchtig aus irgendeinem Volkshochschulkurs. Der Verdächtige heißt Paul Scharwattke, ist arbeitsloser Altenpfleger und wohnt in Kiel-Gaarden.“
Hansens Gesicht hellte sich auf – er mochte Computerarbeit nicht sonderlich: „Na dann nichts wie hin, Sie fahren – Köppcke.“
Eine Viertelstunde später standen sie vor der Wohnungstür Scharwattkes. Diese lag in einem trostlosen Hinterhofgebäude im äußeren Teil von Gaarden, eines Stadtteils auf dem Ostufer der zweigeteilten Stadt, der wegen diverser politischer Fehlentscheidungen in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr zum sozialen Brennpunkt verkam. Die Klingel funktionierte nicht, daher klopfte Kommissar Hansen dreimal an den winzigen Teil der Tür, der nicht vollständig mit Aufkleberresten, Kaugummi oder Dreck überzogen war.
Paul Scharwattke öffnete mit aschfahlem Gesicht und starrte die beiden Beamten mit weit aufgerissenen Augen an. Der junge Mann war wohl Mitte zwanzig, hatte eine schmächtige Figur und ein dazu passendes, leicht vogelartiges Gesicht mit großen, ängstlichen Augen. Die langen, dunkelblonden Haare hatte er zum Pferdeschwanz gebunden. „Ja, bitte?“ „Guten Tag Herr Scharwattke – Hansen mein Name, ich bin Hauptkommissar und das ist mein Kollege Oberkommissar Köppcke. Wir hätten Sie gern mal gesprochen.“ „Das passt gerade leider gar nicht – kommen Sie bitte morgen wieder.“ Dabei wollte er die Tür wieder schließen, doch Knut Hansen stellte seinen Fuß in die Tür und sprach ruhig weiter: „Ich fürchte, ich muss darauf bestehen – wenn Sie sich weigern uns hereinzulassen, müsste ich Sie bitten, mich auf die Wache zu begleiten.“ „Na gut, dann kommen Sie rein ... aber es ist nicht aufgeräumt.“ Scharwattke blinzelte die beiden Beamten nervös an und schlurfte dann kraftlos lethargisch zurück in die Wohnung. Den Beamten schlug eine nach Schimmel und Öl riechende Wolke aus trockener, brütend-heißer Luft entgegen.
Die Wohnung war einer dieser Orte, die Kommissar Hansen so fremd erschienen wie ein Korallenriff auf dem Mond. Der Flur, durch den sie gingen, war an beiden Seiten fast bis zur Decke zugestellt mit kaputten Teilen von Stereoanlagen, alten Computermonitoren, Müllsäcken und ähnlichen Dingen, die nach kompromissloser schneller Entsorgung schrien. Der Anblick, den der dahinterliegende Raum bot, war für Hansen keine Überraschung – tatsächlich hatte er ihn schon beim Klopfen an der Tür vor seinem inneren Auge gesehen.
Das Wohnzimmer, einer von zwei Räumen in der übel riechenden Behausung, wurde von einer schmierigen Glühbirne, die mit loser Fassung von der Decke baumelte, mehr schlecht als recht beleuchtet. Es wurde dominiert von Getränkedosen, Pizzakartons und jeder Menge locker verkabelter Unterhaltungselektronik. Verschiedene Spielekonsolen stapelten sich vor einem großen staubfilmüberzogenen Fernsehgerät.
»Déjà-vu« dachte Hansen – er hatte in den vergangenen Jahren schon unzählige Male in Wohnungen wie dieser gestanden – und in diesem Moment fragte er sich mit einem Anflug von Zynismus, was wohl passierte, wenn man deren Bewohner austauschte. »Wahrscheinlich schauen sie nur nach, ob noch was zu trinken in der Dose ist und wühlen dann nach der Fernbedienung«, dachte er und lächelte traurig.
Als Hansen sich die Regale und Sideboards im Zimmer anschaute, fielen ihm diverse Spuren in der üppigen Staubschicht auf. In diesen Regalen hatten im Laufe der Zeit verschiedene größere Gegenstände gestanden und zwar so lange, dass die Umrisse im Staub noch erkennbar waren. In der Mitte eines Regals stand noch eine stark beschädigte Drachenfigur, bei der ein Flügel abgebrochen war und die Farbe an einigen Stellen abgeplatzt war. Ansonsten waren die Regale bis auf abgestellte Flaschen, Dosen und Kaffeetassen leer.
Der einzige Anflug von Ordnung, den das Zimmer zu bieten hatte, entsprang einer offen stehenden Glasvitrine, die vor langer Zeit wohl einmal mit dem Ehrgeiz aufgestellt worden war, die Fülle von Film-DVDs und Konsolenspielen aufzubewahren. Sie war aber bis auf einige wenige Filme und Spiele leer. Und auch hier berichteten Spuren im Staub davon, dass bis vor nicht allzulanger Zeit mehr dort gestanden hatte.
An der Wand hingen diverse Poster mit Figuren aus Fantasy- und Science-Fiction-Filmen und -Büchern. Der Schreibtisch in der Ecke war mit lose gestapelten, leeren Pappkartons und verschiedenen großen Briefumschlägen bedeckt. Ein bedauernswerter Computerbildschirm ragte daraus hervor und der Bildschirmschoner zeigte einen Zauberer, dem in zufälligen Mustern verschiedene bunte Blitze und Kringel aus dem Zauberstab entfleuchten und ihre Wege über den verstaubten Screen zogen.
Über dem Tisch prangte ein Abreißkalender mit dem Titel »Magischer Kalender 2010« und auf der aktuellen Seite war die Illustration einer schrumpeligen alte Hexe zu sehen, die bedrohlich verkündete: »Es ist Freitag, der 13. – hütet Euch vor den bösen Mächten«.
Scharwattke hockte mittlerweile zittrig missmutig auf einem billigen Klappstuhl vor dem Schreibtisch – dem einzig erkennbaren Sitzmöbel im Raum – und schaute mit blinzelnden Blicken unsicher im Zimmer herum, als der Hauptkommissar auf den Grund des Besuches zu sprechen kam. „Ja, also - Herr Scharwattke ... puh, warm haben Sie‘s hier“ Scharwattke antwortete hastig: „Ja, ich weiß. Die Heizung hier stammt aus der Urzeit. Ich bin froh, wenn sie überhaupt läuft. Die braucht alleine zwei Stunden zum Hochfahren. Wenn‘s dann endlich warm ist, lass ich die Finger davon“.
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