Hansen arbeitete alten Papierkram ab und beantwortete ein paar lästige Anrufe bezüglich irgendwelcher Formalitäten knapp und schnell. Seine kalte Pfeife wanderte abwechselnd vom linken in den rechten Mundwinkel. Seit Januar durfte im Präsidium nicht mehr geraucht werden, das störte ihn aber nicht weiter, er rauchte sowieso nur selten – nur im Mund hatte er die Pfeife gern. Gegen zwölf Uhr wurde der Bericht der Spurensicherung zu dem Juwelenraub reingereicht. Hansen schlug den Pappdeckel auf und las einen zweiseitigen Bericht, der in guter, alter Polizeiberichtemanier wortreich und umständlich verkündete, dass man nichts gefunden hatte. Der Kommissar wunderte sich: Ein professionelles Verbrechen? Hier in Kiel? Sollte es so etwas tatsächlich geben? Es gab keine Fingerabdrücke, keine Spuren, keine Kratzer - nichts. Gerade gab Hansen sich lächelnd der Vorstellung eines fliegenden Einbrecher-Houdinis hin, da klingelte das Telefon. „Jo?“, grunzte er in den Apparat und wartete. „Herr Kommissar, Sie hatten recht – die Klebenotiz mit der Safekombination ist weg. Es muss gestern passiert sein - ein Fenster stand offen, ich dachte, ich hätte es aufgelassen - mein Gott, dann waren die Mistkerle auch in meinem Haus. Man kann sich also in seinen eigenen vier Wänden nicht mehr sicher fühlen.“
„Nun bleiben Sie mal ruhig. Wir kommen gleich mit ein paar Mann von der Spurensicherung vorbei, fassen Sie nichts mehr an und lassen Sie alles, wie es ist.“
Fünfundzwanzig Minuten später standen Hansen, Köppcke und Herr Kohlmorgen in dessen Küche. „So, Herr Kohlmorgen, wie war das? Das ‚absolut geheime Versteck‘ für Ihren Notizzettel war also ein Buch?“ „Sehr richtig, Kommissar. Ich hatte die Kombination auf einem gelben Haftnotizzettel in einen alten Band über die Militärische Kriegsführung im Dritten Reich versteckt. Wissen Sie, meine Bibliothek ist recht umfangreich und ich dachte, der Zettel wäre dort ausreichend sicher versteckt.“
„Kriegsführung sagen Sie? Nun gut. Köppcke, notieren Sie das. Haben Sie auch richtig nachgesehen? Vielleicht haben Sie auch nur die richtige Seite überblättert oder er ist rausgefallen?“ Kohlmorgen lief rot an und er brüllte fast: „Wissen Sie, Herr Kommissar - ich bin ein sehr ordentlicher Mensch - wenn Sie Ihre Belange so ordentlich erledigen wie ich die meinen, müsste dieser Fall schnell aufgeklärt sein. Der Zettel klebt immer an der gleichen Stelle in dem Buch und zwar zwischen Seite 99 und Seite 100 und rausgefallen ist er mir ganz bestimmt nicht.“
Hektisch sah er auf die Uhr: „Sind wir hier bald durch? Ich habe noch einige dringende Telefonate zu führen. Versicherungsangelegenheiten - Sie verstehen?“
Inspektor Hansen lächelte ungerührt sein bestes Dienstlächeln und erwiderte knapp: „Na, dann wollen wir Sie mal nicht aufhalten ... vielen Dank soweit - Sie hören von uns. Köppcke - wir gehen.“
Während die Spurensicherung ihre Arbeit zu Ende führte, gingen die beiden Polizisten schweigend zum Dienstwagen. Köppcke ließ den Motor an und lenkte den Wagen in Richtung Dienststelle. Auf dem Parkplatz angekommen, stiegen beide aus, aber anstatt in Richtung Haupteingang zu gehen, blieb der Kommissar stehen und rief seinem Kollegen nach: „Köppcke! Ich geh jetzt `n Fischbrötchen essen, schicken Sie mir bitte in der Zwischenzeit eine Streife zu Kohlmorgen und lassen ihn aufs Revier bringen. Der zuständige Beamte soll durchblicken lassen, dass wir wissen, dass es keinen Zettel gab und wir wegen Verdachts auf Versicherungsbetrug gegen ihn ermitteln.“
„Aber Chef ...?“ Olaf Köppcke war diese Anweisung sichtlich nicht geheuer und gerade wollte er zu weiterem Protest ansetzen, als der Hauptkommissar nett, aber bestimmt abwinkte: „Nun machen Sie schon, wir sehen uns später.“
Ein Fischbrötchen und zwei Tassen Tee später traf Hansen gemütlich schlendernd wieder in der Dienststelle ein. Er durchquerte den neonbeleuchteten Flur in Richtung seines Büros, als Olaf Köppcke ihn erblickte. Der Assistent lehnte in einem Türrahmen und unterhielt sich mit einer Kollegin aus der Abteilung Kriminaltechnik. Als er seinen Vorgesetzten sah, brach er ab und stürmte auf ihn zu.
„Chef, Chef - der Kohlmorgen hat alles gestanden, er hat noch im Auto angefangen wie ein Kind zu weinen und alles Mögliche vom Finanzamt, schlechter Wirtschaftslage und so erzählt. Das mit dem Zettel hatte er sich tatsächlich nur ausgedacht, um das Ganze wie einen gut geplanten Raub aussehen zu lassen.“ Da Hansen einfach weiterging, während er angesprochen wurde, waren sie inzwischen in seinem Büro angelangt. Köppcke schloss die Tür und sah ihn verschwörerisch an: „Nun aber raus mit der Sprache - dass da was nicht stimmte war ja klar, und vermutlich hätte der Kerl auch so die Ermittlung nicht durchgestanden, aber wie konnten Sie so sicher sein? Das war doch geraten, geben Sie‘s zu.“
Hansen setzte sich in seinen Stuhl, klopfte aus Gewohnheit die leere Pfeife in dem leeren Aschenbecher aus, bevor er sie ebenso leer in den Mund steckte und nur zum Sprechen wieder herausnahm.
„Na ja – ‚geraten‘ ist übertrieben: Ich hatte es im Gefühl. Außerdem wusste ich, dass er bei der Aussage mit der Notiz mindestens einmal offensichtlich nicht die Wahrheit gesagt hat - zwar ging es dabei nur um eine Winzigkeit, aber Lügner sind ja immer verdächtig.“
Köppcke zog die Stirn kraus “Offensichtlich nicht die Wahrheit gesagt? Da hab ich was verpasst.“ Der Kommissar fuhr fort: „Kohlmorgen hat doch behauptet, dass er die Notiz immer zwischen Seite 99 und Seite 100 legt, erinnern Sie sich daran?“ Köpcke war ratlos: „Ja, und?“
„Ich nehme an, das hatte er sich spontan einfallen lassen, um seine Geschichte glaubwürdiger zu machen. Wenn er mal versucht hätte, einen Zettel zwischen Seite 99 und Seite 100 zu legen, wüsste er, dass das nicht geht –nehmen Sie sich ein paar Bücher und prüfen Sie es nach. Sie sollten sowieso mehr lesen.“ Lachend wies er seinem Kollegen die Tür: „Und nun verschwinden Sie und kümmern Sie sich um Ihre Arbeit. Ich hab hier zu tun.“
Als der Polizeiobermeister den Raum verlassen hatte, gönnte sich Knut Hansen wie immer nach einem abgeschlossenen Fall eine kurze Pause. Er brühte sich eine Friesenmischung auf, lehnte sich tief in seinem Sessel zurück und sah, mit der dampfenden Teetasse in der Hand, aus seinem Fenster auf das Meer hinaus. Es war zwar „nur“ die Ostsee, aber wenn man auf den Horizont schaute, machte das kaum einen Unterschied - in Gedanken war er wieder Kind auf Langeoog und dachte an die zickige Suse.
„Eigentlich war sie gar nicht so zickig“, sagte er zu sich und lächelte.
Kapitel 2Fall 2: Handtaschenraub auf hoher See
Es war ein Herbsttag. So einer, an dem nicht einmal die hartgesottensten Ureinwohner Kiels verstehen konnten, warum es das ganze Jahr so viele Touristen in den oft so trüben und ungemütlichen Norden verschlug. Die Kieler Förde, der Wasserkeil, dem die Stadt ihren Namen verdankt und der die Stadt in zwei Hälften spaltet, lag unfreundlich grau unter dem wolkenverhangenen Himmel. Der Fördedampfer „Falckenstein“, eine Personenfähre, die mehrmals täglich im Zickzack die verschiedenen Anleger abfährt, hatte pünktlich 15.20 Uhr am Strandkurort Laboe abgelegt und schipperte nun gemütlich durch die grün-graue Ostsee. An Bord waren höchstens eine Handvoll Menschen. Annegret Hamann, eine 81-jährige rüstige Rentnerin, stand allein am Heck des Schiffes und schaute gedankenverloren ins eintönige Grau-Weiß der Gischt, die eine lange Bahn hinter dem Schiff zog. Sie fuhr diese Strecke regelmäßig hin und zurück und stand fast immer an der gleichen Stelle. Dabei hing sie den immer gleichen Tagträumen nach, in denen sie wieder das junge Mädchen war, das vor über 60 Jahren oft auf Vaters Fischkutter mitfahren durfte. Dass das Schiff mehrfach anlegte und weiterfuhr, bekam sie nur am Rande mit.
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