Mit der rechten Hand nahm sie ihre Sonnenbrille ab und schaute zur Villa herüber. Als sie sich mit elegantem Schritt auf das Haus zubewegte, eilte Peter die Treppe hinunter und öffnete die Tür. Während sie näher kam, betrachtete er sie eingehend und ihm fiel als erstes ein Leberfleck zwischen ihrem linken Nasenflügel und der Oberlippe auf. Ob der echt war? Er hatte davon gehört, dass sich manche Frauen als Schmuck einen Leberfleck anmalten, warum auch immer. Und als Chefin von Kosmetikläden dürfte ihr so etwas nicht schwer fallen.
„Guten Morgen“, grüßte sie. „Ich bin Frau von Gahlen und Sie sind sicher der Hausverwalter.“
Guten Morgen ist gut, dachte Peter. Es war nach eins und er wartete bereits über drei Stunden in dem leeren Haus, in dem es nicht einmal mehr einen Stuhl gab.
„Guten Tag, Frau von Gahlen. Ja, ich bin Peter Grabow, der Hausverwalter. Willkommen in Seidenbach. Darf ich Ihnen das Haus zeigen und Sie herumführen?“ Er ärgerte sich innerlich, ihr nicht trotziger gegenüber aufzutreten, aber das würde dann sein Chef erfahren. Er hatte keine Lust, wegen so einer hochnäsigen Dame seinen Job zu verlieren.
„Erklären Sie mir bitte erst einmal die Aufteilung der Räume“, bat Frau von Gahlen.
„Das Haus besteht aus sechs Räumen, die früher als Klassenzimmer dienten. Auch wenn sie kleiner sind, als die heutigen Klassen, haben sie erhebliche Maße und sind sicher zu groß für Wohnräume...“
„Bitte überlassen Sie es mir, zu entscheiden, was groß ist und was nicht!“, fuhr sie ihn an. „Da werden wir unterschiedlicher Meinung sein. Fahren Sie fort!“
Peter Grabow schluckte seinen Groll hinunter.
„Zwei der Räume befinden sich im Erdgeschoss und vier im Obergeschoss. Hier unten gibt es außerdem die Küche, ein Bad und eine Gästetoilette. Ein zweites Bad befindet sich oben. Zur Talseite gibt es eine Terrasse und oben einen Balkon mit Blick zur Leuchtenburg. Außerdem...“
„Danke“, schnitt sie ihm erneut das Wort ab. „Warten Sie hier. Ich schaue mir das Haus allein an.“ Sie ließ ihn stehen und ging die Treppe nach oben.
Peter Grabow schaute ihr mir offenem Mund nach. Sein erster Eindruck hatte sich wieder einmal bestätigt. Trotz der paar Minuten, die er sie erst kannte, verabscheute er sie bereits, vor allem, weil sie ihn so herablassend behandelte. Wie einen Menschen zweiter Klasse. Aber das war er sicher in ihren Augen auch. In diesem Ort hatte er es mit vielen wohlhabenden Leuten zu tun, aber so war er bis jetzt noch nie behandelt worden. Sicher gab es mit dem einen oder anderen Bewohner hin und wieder Meinungsverschiedenheiten, aber die wurden immer höflich ausgeräumt. Hoffentlich zieht die nicht hier ein.
„Ahhh!“ Ein Schrei aus der Küche riss ihn aus seinen Gedanken. Was war passiert? Er hatte gar nicht bemerkt, dass sie wieder nach unten gekommen war. Er eilte zu ihr.
„Was soll das denn!?“, keifte sie und deutete mit dem Zeigefinger der linken Hand auf die Küchenmöbel. „Was soll diese Einbauküche hier drin?“
„Die haben wir noch nicht ausgeräumt. Dr. Frank meinte, dass der neue Hauseigentümer sie vielleicht übernehmen wolle, da sie erst ein halbes Jahr alt und in sehr gutem Zustand ist.“
Frau von Gahlen betrachtete ihn mit einem geringschätzigen Blick: „Ich kaufe doch nicht so eine teure Villa mit einer gebrauchten Küche. Ich dachte, Dr. Frank hätte eine bessere Meinung von mir. Wie man sich doch täuschen kann.“
Woher sollte er da schon gewusst haben, dass sich eine Frau von Gahlen für die Villa interessiert, würde er ihr am liebsten an den Kopf knallen. Ein anderer Käufer wäre vielleicht glücklich über die Küche gewesen.
„Bis übermorgen muss die Küche raus sein! Ich werde meine Innenarchitektin beauftragen, das Haus für mich einzurichten. Sie wird Sie morgen anrufen und Ihnen mitteilen, wann sie sich das Haus anschaut und alles ausmisst.“
„Das heißt also, Sie werden das Haus kaufen“, stellte er missmutig fest.
„Ja. Es entspricht genau meinen Vorstellungen und ich möchte so schnell wie möglich einziehen. Oder passt es Ihnen nicht?“ Sie grinste ihn hämisch an.
Nein, das passte ihm ganz und gar nicht. Da er aber in Zukunft öfter mit ihr zu tun haben wird, durfte er es sich nicht mit ihr verderben.
„Doch, ausgezeichnet. Ich dachte nur, Sie wollten sich vorher noch ein weiteres Haus anschauen. Im Nachbarort steht auch eins zum Verkauf.“ Zwar hätte er dann auch mit ihr zu tun, aber dort wohnte er nicht und würde ihr nicht so oft begegnen.
„Warum sollte ich mir das andere Haus ansehen, wenn mir dieses hier bestens gefällt?“ Ihre Gedanken schweiften ab. Elke wird das Haus auch gefallen. Sie musste es ihr unverzüglich mitteilen. Ein Blick auf die Uhr machte sie traurig. Ihre Freundin war jetzt nicht zu erreichen. Sie schrieb ihr eine SMS und bat um einen schnellen Rückruf. Hoffentlich ging ihr Wunsch in Erfüllung und Elke gab ihren Zweitjob auf.
„Das andere Haus ist etwas kleiner. Da fühlt man sich allein vielleicht etwas wohler“, versuchte es Grabow ein letztes Mal.
„Hab ich nicht gesagt, mir die Entscheidung zu überlassen, was groß ist? Übrigens ziehe ich nicht allein ein.“
Grabow schaute sie erstaunt an. Sein Chef hatte gesagt, sie sei alleinstehend. Ihre Zeit war zu sehr damit ausgefüllt, ihre Geschäfte zu leiten, sodass ihr keine Zeit für eine Beziehung blieb. Da hatte er sich wohl geirrt. Grabow glaubte, sein Chef hatte auch mal Interesse an ihr bekundet. Sie war ja auch hübsch, aber…eine Hexe in Engelsgestalt.
„Oh, das wusste ich nicht“, sagte er.
„Das geht Sie auch nichts an.“ Sie schaute ihm in die Augen. „Lassen Sie schnellstens die Küche verschwinden und erwarten Sie den Anruf meiner Architektin. Auf Wiedersehen.“
Sie wandte sich der immer noch offenen Tür zu und ging zu ihrem Wagen. Bevor sie einstieg setzte sie ihre Sonnenbrille wieder auf, obwohl der Himmel nun vollkommen mit Wolken verhangen war
Das kann ja heiter werden, dachte Grabow. Er schaute auf die Uhr. Halb vier. Würde er jetzt noch den Grobmülldienst erreichen? Er musste es versuchen.
Ihre Augen verfolgten eine Fliege, die um die Deckenlampe schwirrte, dann zum Fenster flog und gegen die Scheibe knallte. Danach drehte sie ein Runde durchs Zimmer und ließ sich schließlich auf dem Spiegel der Konsole nieder. Sie schmunzelte. Genauso ein Möbelstück hatten ihre Eltern gehabt. Das war, bevor ihre Mutter starb. Was war mit ihrem Vater? Lebte er noch mit dieser Frau zusammen, wegen der sie gehen musste? Lebte er überhaupt noch?
„Es war wieder schön mit dir, Viola.“
Ihr stockte vor Schreck der Atem. Sie hatte ganz vergessen, dass sie in den Armen eines Mannes lag, und zwar im Bett eines kleinen nostalgischen Hotels am nördlichen Stadtrand von Jena mit dem passenden Namen „Nordrand“. Hier empfing Viola ihre Freier. Das Hotel bekam eine Provision und bewahrte Stillschweigen. Viola empfing nämlich keine gewöhnlichen Freier. Ihre Kunden kamen aus den Chefetagen der gut gehenden Firmen, von der Uni und der Fachhochschule, aber auch aus dem Stadtrat. Ihre Freundin, die nicht damit einverstanden war, wie sie unter anderem ihr Geld verdiente, sagte einmal, sie habe sich zur Edelhure hochgearbeitet. Die Zeiten, als sie sich mit ein paar Euro auf dem Straßenstrich zufrieden gab, sind lange vorbei. Zu ihr kamen die Kunden nicht nur des Sexes wegen. Natürlich kam dieser nicht zu kurz. Aber die Männer suchten vor allem jemanden zum Reden, da es in deren Ehen nichts mehr zu sagen gab. In Viola fanden sie eine charmante Zuhörerin. Sie war attraktiv und gebildet und obwohl, oder gerade, weil sie nur eins zweiundsechzig groß war, standen die Männer bei ihr Schlange. Ihr Busen war nicht üppig und nackt hatte sie ein kindliches Aussehen. Viola wusste, dass das manche ihrer Kunden besonders antörnte. Aber es war ihr egal, was die Männer sich vorstellten, wenn sie mit ihr schliefen. Sollten sie ruhig träumen, es gerade mit einer Minderjährigen zu treiben. Das war auf alle Fälle besser, als es wirklich zu tun.
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