Auch im Theater schaute er immer wieder verstohlen auf die Uhr, wann das Stück denn nun endlich vorbei wäre. Anfangs war er durchaus mit Interesse in die Aufführungen gegangen, aber im Verlaufe der Zeit waren die Regisseure immer mehr von der klassischen Art der Darstellung abgewichen und hatten sich mit ihren Bühnenbildern, Kostümierungen und der Verfremdung des Stoffes so weit vom Original entfernt, dass Bergmann nur noch Bahnhof verstand. Ihm schwante nichts Gutes, als ihn Petra auf eine zeitgenössige Interpretation des „Faust“ vorbereitete und etwas von „einer Interaktion der Darsteller mit den Zuschauern“ vorlas. Den Stoff des Stückes hatte er in der Schule ja bis zum Erbrechen durchkauen müssen und empfand wenig Neigung, diese Handlung jetzt auch noch „interaktiv“ erleben zu müssen. Unglücklicherweise hatte Frieder Bergmann einen Platz direkt am Mittelgang und ziemlich weit vorn erwischt, und wurde nach zirka anderthalb Stunden ein Opfer eben dieser Interaktion. Er hatte gerade schläfrig darüber nachgegrübelt, warum Mephisto auf einmal in SS Uniform aufgetreten war und Faust sein Gretchen auf offener Bühne von hinten vögelte. Faust verstand er durchaus schon, er war halt ein Mann und musste seine Triebe ausleben. Warum Mephisto aber in diesen schwarzen Klamotten auf der Bühne herumstieg blieb für Bergmann mehr als rätselhaft. Er memorierte: was will uns der Regisseur damit sagen? Über die Rolle der SS im Krieg war Bergmann als militärisch Interessierter bestens im Bilde. Diese unangenehmen Typen hatten sich mit ihren Taten nämlich überhaupt nicht beliebt und überhaupt keine Freunde gemacht und verkörperten gemeinhin das Böse. Gerade als er einen möglichen Interpretationsansatz gefunden hatte, wurde er aus seinen Gedanken und vom Sitz gerissen.
„Komm‘ mit mir, Fremder“ brüllte Mephisto in den Zuschauerraum hinein und Bergmann an „jetzt wollen wir dem Meister Faustus zeigen, wie sehr er irrt! Er dünkt sich klug, dabei ist er doch nur ein Tor! Sieh, er ist dem Weibe verfallen, bist du es auch?“
Frieder Bergmann wies hilflos auf seine in der Reihe sitzende Frau.
„Ha“ brüllte der SS Mephisto „du bist dem gleichen Buhlen erlegen wie er. Du Narr! Lass uns Meister Faustus von seinem Irrtum heilen.“
Der Schauspieler packte Frieder Bergmanns Arm und zerrte ihn hinter sich her. Über eine Treppe zog er Bergmann auf die Bühne hinauf. Dieser stand unsicher im Rampenlicht und schlotterte vor sich hin, denn sein interaktiver Einsatz würde jetzt sicher erst richtig beginnen. Er hatte sich nicht geirrt. Mephisto schleifte Bergmann zu Faust, dieser baute sich drohend vor ihm auf.
„Sag, du Wurm, du willst mir, dem Meister Faustus, eine Lektion erteilen? Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, und leider auch Theologie durchaus studiert, mit heißem Bemühn. Da steh' ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor! Und du, du Kümmerling, was hast du studiert?“
„Verwaltungswissenschaft“ erwiderte Frieder Bergmann eingeschüchtert.
„Ha“ brüllte Faust los „eine Kunst, die keine ist! Gehst dem Müßiggang nach, du fauler Schreiberling? Gibst dich der Völlerei und der Wollust hin? Seh‘ ich doch ein geiles Glitzern in den Augen deiner Buhlerin! Löse dich von deinen Lastern, oder du wirst untergehen! Sieh, die Hexen nahen schon!“
Frieder Bergmann vermutete, dass jetzt die Szene aus der Hexenküche kommen würde, und er hatte sich nicht geirrt. Jetzt wurde er von zehn fast vollkommen nackten Frauen – die lediglich im Schritt eine Art Feigenblatt trugen – umtanzt. Bergmann hatte im Regelfall überhaupt nichts dagegen, sich jederzeit gut gebaute nackte Frauen anzusehen. In der jetzigen Situation hatte der Anblick der auf und niederwippenden Möpse für ihn aber keine anregende Wirkung, sondern war eher angsteinflößend, denn in Sinne der angekündigten Interaktion der Darsteller mit den Zuschauern musste jetzt irgendetwas passieren. Es passierte. Ehe sich Bergmann versah, wurde er von den Frauen wie ein Brett in die Höhe gehoben und über die Bühne getragen. Er dachte verzweifelt darüber nach, wie er sich aus dieser misslichen Lage befreien könnte. Auf dem Rücken liegend und von den Frauen über die Bühne getragen war Bergmanns Blickfeld stark eingeschränkt, er konnte nur das sehen, was sich über ihm befand. Mephisto brüllte jetzt:
„An den Pranger mit dem Hundsfott! Jetzt lasst ihn für seine Geilheit büßen und reißt ihm die Kleider vom Leibe. Bindet ihn nackt an den Pranger. Nun soll er für seine Sünden zahlen! Ha, das wird ein Fest werden!“
Faust lachte diabolisch.
In diesem Moment beschloss Frieder Bergmann voller Panik, sich nicht mehr länger zum Objekt der Interaktion machen zu lassen, sondern selbst in die Initiative zu gehen. Als ein vom Theaterhimmel herabbaumelndes Seil in seinen Blick geriet, packte er es entschlossen. Da sich die Frauen immer noch über die Bühne in Richtung Pranger vorwärts bewegten, aber Bergmann sich nunmehr wie ein Affe an das Seil klammerte, kam es dazu, dass Frieder Bergmann den Hexen plötzlich aus den Händen gerissen wurde. Sich am Seil festhaltend schwang er in knapp zwei Metern Höhe über dem Bühnenboden wie Tarzan an seiner Liane durch den Dschungel. Im Gegensatz zu dem Dschungelbewohner ging Frieder Bergmann jedoch jegliche Geschicklichkeit im Umgang mit dem Seil ab. Im nächsten Moment wurde er an die Bühnendekoration geschleudert und warf mit seiner kinetischen Energie zwei große Tafeln um. Bergmann selbst flog noch ein kleines Stück weiter und landete unsanft hinter der Dekoration. Durch die umstürzenden Kulissentafeln wurde jedoch eine unheilvolle Kettenreaktion in Gang gesetzt. Da die Teile der Kulisse miteinander verbunden waren krachten jetzt auch alle anderen um und verwandelten die Bühne in eine apokalyptische Landschaft aus zerborstenen und wild durcheinanderliegenden Holzteilen. Frieder Bergmann hatte sich aufgerappelt und wurde eiligst von zwei Leuten gepackt, sofort von der Bühne entfernt, und in einen Bereich hinter diese gebracht. Von dort aus hörte er Mephisto auf der Bühne brüllen:
„Ha, der feige Schreiberling ist in die Hölle befördert worden! Dort soll er grässlich schmoren!“
Frieder Bergmann konnte in diesem Moment trotz seiner Verwirrung eine gewisse Hochachtung für den Darsteller des Mephistos nicht leugnen, denn der Mann hatte blitzschnell improvisiert und auf die unerwartete Wendung durch Bergmanns Einlage ganz hervorragend reagiert.
Beim technischen Personal des Theaters herrschte aufgrund Bergmanns Wirken totale Konfusion, so dass man ihn nicht mehr weiter beachtete, schließlich mussten die Leute das Chaos auf der Bühne schnellstens entschärfen. Aufgeregtes hin- und her Gebrülle zeugte davon, dass die Typen dafür keinen richtigen Plan hatten.
Mephisto musste wieder seinen Senf zu der Situation dazugeben.
„Ha, sehet doch, der unnütze Schreiberling kann nur zerstörerisch wirken, zu einer schöpferischen That ist er wegen seines schwachen Geistes gar nicht imstande. Oh, hütet euch vor solchen Leut. So lasset uns jetzt eine Rast einlegen, denn den Schuft will ich mir greifen! Und wenn ich ihn aus der Hölle wieder herausholen muss! Ja, ich will dem Wurm am Pranger sehen. So begebe ich mich jetzt auf die Reise, um den Schreiberling zu packen. Wartet einen Moment, dann sollet ihr ihn bald am Pranger winseln hören.“
Der Bühnenvorhang rauschte herab.
Frieder Bergmann hatte eine ziemlich ungute Vermutung, was das Vorhaben von Mephisto anbetraf. Der Mann war unüberhörbar etwas auf Brass, und wie er aus dem Stehgreif heraus in eine Pause überleitet hatte, war schon beachtlich. Mephisto war zweifellos ein nicht zu unterschätzender Gegner. Ein klärendes Gespräch über die Umstände, die zur Zerstörung der Bühnendekoration geführt hatten, war aufgrund des wütenden Tonfalls des Schauspielers sicher nicht der richtige Weg. Frieder Bergmann musste also schnellsten Raum gewinnen, schlich sich weiter in den Hintergrund der Bühne hinein, und suchte nach einem Ausweg aus diesem Bereich. Da er eilige Schritte näherkommen hörte nahm er eine abwärtsführende Treppe um nicht entdeckt zu werden.
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