Überrascht blickte sie ihn an, wie er mit verschränkten Armen im Türrahmen lehnte.
Wie hatte sie nicht bemerken können, dass er hinter sie getreten war?
„Das heute war meine erste ernstzunehmende Attacke seit fast vier Jahren“, bestätigte sie seufzend, bevor sie sich von Nathan abwandte, um seinen Becher aus dem Schrank zu nehmen.
Ihre Stimme klang wesentlich gelassener, als sie sich fühlte.
Das blaue Glücksbärchen zwinkerte ihr kurz zu, als sie den Becher auf die Arbeitsplatte stellte.
„War es der übliche Verlauf?“
Seufzend lehnte Cathrynn sich mit dem Rücken gegen die Arbeitsplatte und suchte Nathans Blick, während sie mit einem bitteren Lachen nickte.
„Ich habe mir eine gute halbe Stunde die Seele aus dem Leib gekotzt und den Rest der Zeit gedacht, ich würde sterben, wenn es das ist, was du meinst.“
Nun war es Nathan der versonnen nickte, bevor er mit dem Kinn auf die Flasche in ihrer Hand wies.
„Ich gehe nicht davon aus, dass du was genommen hast.“
Sie schüttelte den Kopf, während sie sich eine Zigarette anzündete. Einen Moment starrte sie schweigend den Rauchwolken hinterher.
„Cat?“
„So schlimm war es auch nicht!“, betonte sie ärgerlich, ohne sagen zu können, warum sie schon wieder wütend wurde.
„Was?“, fauchte sie, als Nathan sie skeptisch musterte.
Jede Faser ihres Körpers war mit einem Mal auf Angriff eingestellt.
„Lass uns nicht schon wieder streiten“, wiegelte er kopfschüttelnd ab.
„Weißt du noch, was der Auslöser gewesen sein könnte?“
Cathrynn brauchte einen Moment, um ihre Wut zurückzufahren.
Bewusst konzentrierte sie sich auf Nathans haselnussbraune Augen, bis sie merkte, dass sie wieder etwas ruhiger wurde.
Sie hatte ebenfalls kein Interesse an einem weiteren Streit mit ihrem besten Freund.
Nicht in ihrem angeschlagenen Zustand.
Nicht, wenn sie keine Aussicht darauf hatte, ihn zu gewinnen.
„Was glaubst du?“
„Dein siebter Geburtstag? Also, die altbekannte Routine.“
Cathrynn spannte unwillkürlich die Schultern an, bevor sie sich umwandte und zur Kaffeekanne griff.
„Zu Anfang, ja. Ich war wieder in unserem Ferienhaus und Serpentine hatte Mom gerade getötet.“
Sie unterbrach sich kurz, um den Kaffee unfallfrei in den Becher zu gießen.
Ihre Hände hatten wieder zu zittern begonnen, sodass diese Aufgabe ihrer vollen Konzentration bedurfte.
„Als er sich dann mir hätte nähern müssen…“
Ihre Stimme brach.
Der Kloß in ihrem Hals schnürte ihr die Luft ab.
Noch immer, zweiundzwanzig Jahre später, waren die Erinnerungen an diese Nacht präsent genug, um sie aus der Fassung zu bringen.
Die Bilder hatten sich in ihr Gedächtnis eingebrannt, doch das altbekannte Grauen wurde schnell von anderen Erinnerungen überlagert.
„Als er sich mir hätte nähern müssen…“
Die blutdurchtränkte Matratze des Kinderbettes.
Der zerfetzte Kinderkörper.
Mit den Bildern kam die Übelkeit zurück.
Cathrynn würgte.
Die Kanne glitt aus ihren Fingern als sie losspurtete.
Sie erreichte die Toilette gerade in dem Moment, als es ihr hochkam.
Wie durch einen Schleier hindurch hörte sie Nathans Schritte.
Seine warme Hand begann sanft über ihren Rücken zu streichen, während sie die zweieinhalb Flaschen Bier keuchend, schwallweise erbrach, bis nur noch trockenes Würgen ihren zierlichen Körper schüttelte.
„Kämpfe nicht dagegen. Schwimme mit dem Strom, Schatz“, ermahnte Nathan sie sanft, als sie sich gegen die lähmende Übelkeit stemmte.
Sie musste alles an Willenskraft aufbieten, um seiner Aufforderung nachzukommen.
Der Brechreiz verschwand, wenngleich die Übelkeit blieb.
Mit noch immer rumorendem Magen sank sie zitternd gegen die Duschkabine des Gästebadezimmers.
„Tief durchatmen, Cat. Es ist alles in Ordnung, dir kann nichts passieren.“
Sie ließ es geschehen, dass Nathan sie in seine Arme zog und schloss seufzend die Augen.
„Anstatt mich zu attackieren, hat er Eirin vor meinen Augen zerfleischt.“
Die blutdurchtränkte Matratze des Kinderbettes.
Der zerfetzte Kinderkörper.
Alle Dämme brachen, als das Bild der grausam entstellten Leiche ihrer Tochter wieder vor ihrem inneren Auge erschien.
Schluchzend vergrub sie den Kopf an Nathans Brust.
„Lass es raus, Schatz.“
Sein Kinn ruhte auf Cathrynns Scheitel, als er sie fester in die Arme schloss.
Mit den Tränen kamen auch die Erinnerungen.
Die Nacht des 26. November spulte wieder vor ihrem inneren Auge ab.
Das einstürzende Haus.
McConagheys Tod.
Die Polizeiwagen in ihrer Auffahrt.
Das Blut.
Eirins zerfetzte Leiche.
„ Ich werde dir jeden nehmen, den du liebst “, raunte Serpentine mit kalter Stimme in ihr Ohr.
Plötzlich hatte Nathans Umarmung nichts Tröstliches mehr. Cathrynn fühlte sich in einem Schraubstock gefangen.
Sie begann sich gegen ihn zu stemmen, als sie sich grob aus seinen Armen befreite und auf die Beine sprang.
„Cat, was ist los?“
„Scheiße, ich muss hier raus!“
„Cat?“
Ohne Nathan zu beachten floh Cathrynn aus dem kleinen Badezimmer in das geräumige Wohnzimmer.
„Cat, bitte rede mit mir!“
Sie begann wie ein wildes Tier im Käfig auf und ab zu gehen.
Sie musste in Bewegung bleiben.
War dieser verfluchte Raum schon immer so klein gewesen?
Wenn sie jetzt stehen blieb, dann würde sie ersticken.
Ihr Atem ging stoßweise.
Die Wände schienen auf sie zuzukommen – schienen sie erdrücken zu wollen, so wie Nathan zuvor.
Ihr brach der kalte Schweiß aus und plötzlich war da dieses Wispern, das sich an den auf sie zustrebenden Wänden brach.
Eine Stimme hob sich von den vielen ab.
„Ich verstehe dich nicht!“, presste sie atemlos hervor.
Sie strengte sich an, die Worte zu verstehen, die hin und her reflektiert wurden, doch sie verstand die Botschaft nicht.
Bruchstücke.
Etwas wegen ihres Traums.
Etwas, an das sie sich unbedingt erinnern musste.
Sinnlos.
Ohne Zusammenhang.
„Was willst du von mir? Ich verstehe es nicht!“
Das Bild eines lebendigen Schattens blitzte kurz auf und verschwand wieder.
Sie röchelte, japste nach Luft, doch nichts drang in ihre Lungen.
Adrenalin.
Eine Bewegung am Rand ihres Sichtfeldes.
Sie war nicht mehr allein im Zimmer.
Jemand beobachtete sie, lauerte im toten Winkel.
Mit gespannten Muskeln fuhr sie herum.
Sie erstarrte für einen Moment, gelähmt durch den Anblick seines teuflischen Grinsens.
Ein Beben erfasste ihren Körper, riss sie aus ihrer Erstarrung.
Hass und Wut wallten in ihr auf, brachten ihr Herz zum Rasen und schalteten ihren Verstand aus.
Eine Vielzahl von Lichtpunkten explodierte vor ihren Augen, während das Rauschen ihres Blutes in ihren Ohren zu dröhnen begann.
Sie spürte eine urgewaltige Welle sie erfassen, ihren letzten Rest rationalen Denkens mit sich reißend, als der Blutrausch seinen roten Schleier über sie legte und alles um sie herum in ein diffuses rötliches Halbdunkel tauchte.
Sie dachte nicht mehr - konnte nicht mehr denken.
Etwas Anderes hatte sich ihrer bemächtigt und kämpfte nun um die Oberhand.
Sie ließ sich fallen, trat hinter dieser anderen Präsenz zurück, die mit einem tierischen Fauchen die Kontrolle übernahm, als sie mit gefletschten Zähnen auf Serpentine zusprang, der sie mit blasiertem Grinsen beobachtete.
Die Wucht ihres unerwarteten Sprungs riss Serpentine von den Beinen.
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