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Ich kann das fast nicht glauben, was für ein Verständnis und eine Zuneigung Julia und ich füreinander haben. Diese beiden Tage waren wie ein Traum. Noch nie habe ich für einen Menschen so gefühlt. Von ganzem Herzen, mit aller Wahrheit. Wir liegen weinend im Bett vor Glück und Dankbarkeit, dass wir uns begegnet sind. Julia ist sehr entspannt, ungeheuer gesprächig, sehr, sehr liebesbedürftig. Sie fühlt sich ausgesprochen wohl. Alles sieht sie sich genau an, genauestens.
Wir hätten gut in den immer noch vorhandenen Ehebetten meiner verstorbenen Eltern schlafen können, aber irgendwie brachte ich es nicht übers Herz und so schlafen wir in dem Bett meines Kinderzimmers, das eigentlich noch genau so aussieht wie früher. Zwischendurch war es das Zimmer meines Vaters, als Mutter und er nicht mehr in einem Raum schlafen konnten. In dem Bett – in meinem – ist mein Vater gestorben. Ich denke, wenn ich mit Julia darin inbrünstig glücklich bin, was er wohl zu Julia sagen würde.
Julia kann in dem Bett nur mit angewinkelten Beinen schlafen, deswegen muss sie vorne liegen, damit die Knie ins Freie schauen können. Julia ist meine Schlaftablette. Sie neben mir zu wissen, ist betäubend schön.
Neben meiner Schwester, in ihrer kräftigen weiblichen Molligkeit, stakst Julia. Die Verrückte hat sich einen Trachtenjanker meines Vaters angezogen, hat einen grünen Trachtenhut nebst Gamsbart auf, der ihr die Ohren ein bisschen abknickt. Sie trägt einen dicken, langen, grauen Wollrock, ein Stück nackte, dünne Beine und dann die voluminösen neuen Bergschuhe. Sie schwatzen, die beiden, bleiben stehen, reden aufeinander ein, gehen ein Stück, bleiben wieder voreinander stehen… Ich möchte wissen, was die reden, kennen sich doch erst ein paar Stunden. Aber sie lassen mich deutlich spüren, dass ich nicht der Dritte im Bunde sein soll. Ach, ich weiß, sie reden über mich! Julia wird wissen wollen, wie ich war als Bruder, als Kind und meine Schwester wird Julia ausquetschen, was sie an mir findet. Julia macht sich so klein wie sie kann, aber die beiden sehen aus wie Liesl Karstadt und Karl Valentin.
Meine zweite Schwester findet Julia witzig. Ich glaube, sie hat noch nie eine so große dünne Frau gesehen und schüttelt immer mal wieder ihren Kopf als Zeichen ihrer Verwunderung, die sie mit meinen Schwägern teilt, die fast erschüttert sind, dass so ein junges Mädchen auch noch schwärmt von mir, dem alten Kerl. Julia ist ein kleines Luder, wenn sie spürt, dass Menschen verunsichert sind ob unserer Unterschiedlichkeit. Dann schürt sie noch im Herd der Provokation. Sie spielt den Leuten die kleine Maus vor, die von der dicken Katze geduldet wird. Mit Julia ist es schon ungewöhnlich. Ihr Aussehen und ihre Offenheit sind für die meisten Menschen erst mal erstaunlich. Wenn sie sich an ihr Äußeres gewöhnt haben, sind sie von ihrem Wesen entzückt. Die Entzückung geht natürlich nicht so weit, dass man ihre negative Hausfraulichkeit – Louis macht das besser – versteht. Meine Schwestern sind verblüfft, aber ihnen fällt dazu ein, dass ich als Knabe schon gerne gedient habe. Und nun wird erzählt, wie einfältig ich als Kind war und umso mehr das gewahr wird, umso zärtlicher wird Julia zu mir und ich muss sie bremsen, um Peinlichkeit fern zu halten.
Egal wie es ist, Julia wird bestaunt und bewundert und sie genießt es ausgiebig, ist ihr doch so eine Aufmerksamkeit noch nie so offen begegnet. Immer wieder kommt sie auf mich zu, zwickt mich in die Oberarme und gesteht: „Louis, s,sag’, dass dies wahr ist, bitte!“
Nur Gott weiß, wie ich sie liebe! Ja, ich weiß, wie dieser Satz klingt, aber was soll ich tun, er kommt mir in den Kopf.
Wir machen einen kleinen Nachmittagsspaziergang hinunter zur Forellenzucht. An dem grünen, von dunklem Tann umstehenden Weiher vorbei, mit aufgeregten Enten, denen Julia die nicht gegessenen Reisebrötchen verfüttert. Wir gehen vorbei am Bachingerlehen, einem alten Bauernhof, der noch Schindel gedeckt ist – die Tochter Mädy war verliebt in mich, als ich in der Beatband spielte, vor fünfunddreißig Jahren. Oh Gott!
Den Hohlweg hinunter, in dem es auch im heißen Sommer kühl ist. Der Fischer Martin bleibt ewig jung oder alt, für mich hat er nie anders ausgesehen, und Julia kann sich die Forelle aussuchen, die er dann für sie fängt und mit einem Holzknüppel erschlägt. Julia gibt sich gefasst und ich bin neugierig, ob sie den Fisch essen wird.
Julia ist ein bisschen betrunken, kuschelt sich an mich, schläft auf der Stelle ein. Noch bin ich nicht in der nötigen Schläfrigkeit, steige vorsichtig über Julia, die sich sofort entfaltet über das ganze Bett, seufzt wohlig über das Platzangebot. Es ist gerade mal Mitternacht. Die Schlafzimmer der restlichen Familie befinden sich unter dem Dach und ich öffne die Balkontüre des Wohnzimmers. Klare, kalte Waldluft strömt herein und ich setze mich in den großen, gepolsterten, aufrechten Eichenstuhl im Holzgetäfelten. Natürlich fallen mir sofort meine Eltern ein, es bleibt nicht aus, denn es riecht ja doch noch nach ihnen. Vor diesem großen Fenster mit Blick in die mächtige Buche saßen sie sich gegenüber, getrennt durch den robusten, mit Fliesen gekachelten Tisch und starrten vor sich hin oder hinaus, so lange, bis sie Trugbilder vor Augen hatten. Für meinen Vater wurden die drei Kamine des Nachbarhauses zu drei tanzenden Stripperinnen und meine Mutter sah, dass auf dem Sofa hinter meinem Vater dutzende Wiesel saßen, die ihre Grimassen schnitten. Oft musste ich ihnen lange gut zureden, damit ich ihnen diese Bilder wieder ausreden konnte.
Einstmals liebten sie sich abgöttisch, mein Vater war wie verrückt ob dieser schönen Frau und meine Mutter fühlte sich belohnt nach ihrer harten Jugend, diesen selbstbewussten, hübschen Mann zu bekommen. Diese Liebe schlug schnell um in Gleichgültigkeit und Enttäuschung. Nach Jahrzehnten hatte sich ein Hass kristallisiert, den man im Alter mit Verachtung zeigte. Trotzdem hingen sie irgendwie aneinander, was wir Kinder uns nie erklären konnten.
Mir ist kalt, lasse mich nochmals begeistern von diesem großartigen Sternenhimmel, schließe die Tür, öffne eine Flasche Rotwein, begebe mich zurück ins Holzgetäfelte, schalte im Radio den Klassiksender ein. Leise, eindringlich berühren mich in zärtlicher Lustigkeit Piano Sonaten von Beethoven. Ich lösche das Elektrische und entzünde Kerzenlicht, lege meine Beine hoch auf den Hocker, fröstle ein bisschen in der Kühle, aber auch, weil es mich sehr berührt hier zu sitzen, und da höre ich leise, vorsichtige, große Schrittchen und im Geknarze des Holzbodens kommt Julias Schatten angeschlichen.
„Warum bleibst du nicht im Betti, hm?“
„Ich will nicht allein, Louis!“
„Julia, du bist betrunken!“
„Ja, ich bin betrunken vom Wein, aber auch weil ich glücklich bin. Wenn man glücklich ist, wird man von einem Tropfen Wein besoffen.“
Ich kann sie von meinem Schoß lösen, lege sie auf das kleine Sofa, wickle die Mohairdecke meiner Mutter – die immer noch nach Salben riecht – um Julia, gebe ihr das gewünschte Glas Rotwein.
„Bist du zufrieden mit mir, Louis?“
„Was redest du…. ?“
„Du bist s,so gerne allein, Louis!“
„Julia, ich weiß nicht, ob das ein Kompliment ist, aber ich konnte noch nie so gut mit einer Frau alleine sein wie mit dir!“
„s,Schlaf’ mit mir, Louis!“
Ich quetsche mich auf das Sofa neben sie und mir fallen die Augen zu, als mich ihre Wärme erreicht.
Julia ist verliebt in ihre Bergschuhe, vielleicht weil ihre großen Füße endlich einmal in Schuhen stecken, die so bequem sind, als hätte jeder Fuß sein eigenes Bett.
Die gesamte Familie ist aufgebrochen zu einer Bergwanderung, die wohl an die fünfzigmal begangen worden ist und immer mit Neulingen begangen wird. Zwei Stunden mit einem kräftigen Aufstieg zu der kleinen, feinen Bergwirtschaft unserer Cousine, mit Ausblick auf das Berchtesgadener Tal. Söldenköpfel heißt dieser kleine Waldberg und massig nebenan steht der Watzmann in seiner Familie.
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