Sie folgten Bully, der die Spur von jenem, auf dem Müller gesessen hatte. Er zog Bergfeld zu dem versumpften Wassergraben, folgte diesem etwa zwanzig Meter und blieb an einer dicht verwachsenen Stelle zwischen mehreren kleinen Kiefern stehen. Einer der kleinen Bäume war umgeknickt, zwei Zweige angebrochen, auch Gras war niedergedrückt und auf einem Maulwurfshügel ließ sich deutlich ein Reifenabdruck erkennen. Bergfeld lobte seinen Hund und der sah ihn so glücklich an, als wolle er sagen: Siehst du, ich habe doch nichts verlernt.
Hanke verfolgte ihr Tun aus achtungsvollem Abstand. Als Bergfeld ins Haus ging, fragte er: „Meinen Sie, Kutte – ich meine Kurt Müller ist etwas passiert? Hier, am See?“
„Wir wissen noch gar nichts“, erwiderte Bergfeld.
Wagner kroch auf dem Wohnzimmerboden entlang. Er hatte mehrere Lampen aufgestellt, starkes Licht erhellte das Zimmer. Er und untersuchte den Teppich. „Ich möchte wetten, das hier ist Blut“, murmelte er. „Leider nur ein paar Tropfen und eingetrocknet.“
Bergfeld versuchte, von der Tür aus etwas zu erkennen, doch aus dieser Entfernung wirkte der abgewetzte, dunkle Teppich sauber. Er informierte Wagner über die Spur an den kleinen Kiefern, und der Kriminaltechniker murrte, dann müsse er sich die erst mal ansehen, ehe es dunkel würde. „Hier dauert es noch eine Weile, aber hier habe ich ja Licht.“
Bergfeld befragte Hanke zu Müller; ob er Feinde habe, ob er Ärger hatte – und da erzählte Hanke auch von den Vorwürfen der Kreisleitung, die ihn für die Vernichtung wertvollen Ackerlandes verantwortlich machte. Aber man munkle auch von irgendwelchen dunklen Geschäften mit Benzin und Wodka, schließlich saufe Müller ziemlich viel. „Aber ehrlich gesagt, persönlich kenne ich ihn ja kaum – nur wenn er mal herkam und die Arbeit hier vor Ort überprüfte.“
Es war kühl und sie gingen beide an dem ausgebaggerten Seerand entlang, vor ihnen Bully, der herumschnüffelte, hin und wieder herankam und Bergfeld auffordernd ansah, ob denn keine neuen Befehle kamen. „Benzin und Wodka“, sagte Bergfeld und blieb ruckartig stehen. „Müller wohnt in Bernau. Macht er da mit den russischen Soldaten Geschäfte?“
Hanke hob die Schultern. „Keine Ahnung. Aber mit denen machen doch viele Geschäfte. Ich habe, ehrlich gesagt, von ihnen auch schon mal Benzin gekauft. Die stehen doch immer an der Autobahn.“
Vielleicht war das eine Spur. Und wenn es eine heiße war, dann war sie gefährlich.
Langsam kroch die Dunkelheit aus dem Wald und Hanke sah unruhig auf seine Uhr. „Dauert es noch lange?“ fragte er.
„Kann ich nicht sagen, doch wenn Sie gehen wollen, habe ich nichts dagegen.“ Bergfeld überlegte. „Sie haben doch vorhin eine Tasche aus dem Büro mitgenommen. Was haben Sie denn da drin?“
„Die Arbeitsunterlagen für die Ausbaggerung hier im Moor, dann die Aufträge der LPG – die haben doch immer die Erde zur Bodenaufbesserung angefordert, die Rechnungsbelege...“
Auch das konnte eine Richtung sein, in die man ermitteln sollte. Er
wusste nicht, ob bei den Torfboden-Geschäften auch etwas mit Bestechung lief, wie vor einem Jahr im Fall der Kieslieferungen. „Brauchen Sie diese Unterlagen im Moment?“ fragte Bergfeld.
„Nee, im Moment nicht.“
„Gut, ich bringe sie Ihnen so schnell wie möglich zurück. Ja, das wär’s dann. Übrigens: Haben Sie die Bungalow-Schlüssel dabei?“
Hanke reichte ihm eine recht dicke Mappe und die Schlüssel. „Ihm wird doch nichts passiert sein“, sagte er. „Da trinkt man abends noch zusammen und am nächsten Morgen ist einer verschwunden. Einfach so weg.“ Er schüttelte den Kopf und stapfte davon.
Bergfeld schaute in das Wochenendhaus. „Schon was gefunden?“ fragte er, obwohl er die Antwort kannte. Dann fiel ihm etwas ein. „Hast du die Autoschlüssel von dem jungen Mann... dem Erschossenen mit?“
Wagner deutete auf seinen kastenförmigen Koffer, in dem ein Fach als Schlüsseltasche diente. Das Ungetüm ließ sich wie ein kleiner Werkzeugschrank auseinander klappen und Bergfelds Blick fiel auf mindestens fünfzig Schlüssel und Haken, einige dünne Zangen, Drähte und Feilen und einen etwa zigarrengroßen Metallkörper mit Häkchen und Schiebern. Das war offenbar ein komplizierter, verstellbarer Spezialschlüssel. „Bring’ nichts durcheinander“, knurrte Wagner. „Die Autoschlüssel liegen oben in einer Plastetüte.“
„Alles klar“, sagte Bergfeld. Er nahm den Autoschlüssel und ging ohne große Hoffnung zu Müllers rotem Lada. Das war natürlich eine irre Idee, aber versuchen konnte man es ja. Er steckte den Schlüssel in die Fahrertür, drehte ihn und spürte etwas einschnappen. Die Tür ließ sich öffnen. Einen Moment starrte er dümmlich in den leeren Wagen und versuchte, zu begreifen. Fast mechanisch versuchte er es mit der Kofferraumklappe und hob sie an. Bis auf das Reserverad - nichts. Dann ging er zu Wagner ins Haus. Er musste sich räuspern, ehe er fragen konnte: „Sag mal, Siegfried, passen Ladaschlüssel eigentlich für jeden Wagen dieses Typs?“
„Dämliche Frage“, murmelte Wagner. Dann ruckte er hoch und starrte Bergfeld an. „Das kann doch nicht wahr sein.“
Führte Müllers Spur bis hinter die Kasernenmauern? Dann würde sie für die deutsche Polizei im Dunkel verlaufen. Das war ein Staat für sich, und nicht der freundschaftliche, brüderliche, wie es die Propaganda seit Jahrzehnten glauben machen wollte. Nicht mal die fanatischsten Parteimitglieder bei der Polizei wollten etwas mit den Sowjets und ihrer undurchsichtigen, eigenartigen Rechtsauffassung zu tun haben. Sie waren die Sieger und so verhielten sie sich auch -- seit fast fünfzig Jahren.
Wagner hatte vorhin wirklich Recht mit seiner Frage. Jetzt stöhnte er leise und sagte: „Denkst du dasselbe wie ich?“
„Wir müssen uns mal unterhalten, Michael“, sagte Marion Bergfeld zu ihrem Mann. „Wir sehen uns ja kaum noch.“
Sie kam mit einer Tasse frischen Kaffees aus der Küche und setzte sich an den von ihrem Mann gedeckten Tisch. Ihr Bademantel glitt auseinander und zeigte am Ende ihrer vollen Oberschenkel den freien Unterleib und einen dichten Haarpelz. Sofort spürte Bergfeld Leben in seinem Glied, es begann sich kribbelnd aufzupumpen, obwohl sie gestern Abend noch miteinander geschlafen hatten. Es war ziemlich heftig, recht schnell und vielleicht gerade wegen einer langen, abstinenten Zeit wieder einmal sehr schön gewesen. Sie hatten die Fickerei in letzter Zeit zu sehr vernachlässigt; irgendetwas war immer dazwischen gekommen, entweder fühlte sich Marion unpässlich oder er war oft zu müde und ausgelaugt. Aber das waren vielleicht nur vorgeschobene Gründe. Sicher, im Moment machte ihm der Fall mit dem erschossenen jungen Mann und dazu der verschwundene Müller Kopfzerbrechen, dazu die Sorgen mit dem ererbten Haus. Das alles hatte sich aber nicht auf die Strandfestigkeit seines Schwanzes ausgewirkt – im Gegenteil, er könnte jetzt schon wieder. Er sollte freundlicher auf Marion zugehen, sich mehr Zeit für sie nehmen.
Bergfeld legte die Hand auf den Oberschenkel seiner Frau und schob sie sanft der dunklen Haarfülle entgegen. Sie setzte mit einer unwilligen Bewegung die Tasse ab, schob brüsk seine Hand zurück und zog den Bademantel über die Knie.
„O, entschuldige“, sagte Bergfeld ironisch. „Dann war das gestern Abend wohl nur ein Ausrutscher?“
Sie ging nicht drauf ein und Bergfeld überlegte, wie er die Situation am besten wieder in den Griff bekam. Er konnte nicht dafür, doch immer wenn Marion seine sexuellen Annäherungsversuche mit so deutlichen Widerwillen zurückwies, schämte er sich wie ein vor seiner Klasse blamiertes Kind. Es war wie die Erinnerung an kindliche Abhängigkeit von seiner Mutter, die seine Hand -- allerdings mit einer gewissen Nachsicht -- zurückgeschoben hatte, wenn er sich noch einen Nachschlag Pudding auffüllen wollte, bevor Vater und der große Bruder fertig waren. Das hieß: Du hast genug, sei zufrieden!
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