Engwart war sich fast sicher, dass Müller im Schlafraum lag. Er atmete tief durch, warf noch einmal einen Blick zu seinem Hund und drückte die Klinke herunter. Vor Aufregung hatte er vergessen, das Taschentuch zu benutzen. Und das, wenn gerade hier etwas passiert sein sollte, wenn ein Mörder die Tür zugezogen hatte. Neben drei benutzten Gläsern standen ja noch zwei auf dem Tisch – also musste irgendjemand mit Müller weiter getrunken haben. Der Mörder?
Im Zimmer herrschte Halbdämmer, auch hier die Vorhänge zugezogen. Zwei einfache Betten, ein Schiebeschrank und kleine, dunkle Nachtschränke. Doch die Betten waren unberührt, Verstecke gab es in dem kleinen Raum nicht. Engwart atmete erleichtert auf, blickte aber sicherheitshalber noch in den Schrank. Nichts. Die Betten standen so flach, da passte der dicke Müller nicht drunter. Engwart fühlte sich erleichtert -- was einem die Fantasie so vorgaukeln konnte. Wahrscheinlich war Müller morgens spät erwacht und der Wagen nicht angesprungen. Vielleicht hatte er einen wichtigen Termin gehabt und war ins Dorf gelaufen, um zu telefonieren.
Als er noch einmal ins Wohnzimmer ging, sah er Müllers Aktentasche. Einen Moment zögerte er, dann nahm er wieder sein Taschentuch und öffnete sie vorsichtig. Er fand mehrere Aktenordner, darunter auch den dünnen mit seinem Artikel und mehreren Blättern. Er schlug den Ordner auf, dem Müller den sinnigen Titel „Feldweg“ gegeben hatte, und blätterte die Schreiben durch: eines von der SED-Kreisleitung, in dem Müller aufgefordert wurde, die Kampagne für hohe Ernteergebnisse nicht zu sabotieren und den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften zu helfen in ihrem schweren Kampf zu immer besserer Versorgung der Bevölkerung und damit Stärkung des sozialistischen Lagers; dann der Durchschlag von Müllers Brief an die Redaktion, Engwarts Antwortschreiben und einige Notizen Müllers zu diesem Vorgang.
Neugierig zog er auch die anderen Akten heraus: Aufträge, Gutachten, Bodenanalysen von Bohrproben und verschiedene Personalpläne. In einem mit Reißverschluss abgetrennten Fach fand er eine dickere Akte im kleinen Format DIN A 5. Dort waren Automarken aufgelistet, Literzahlen mit der Bezeichnung Su und Nor, Ziffern vor der Abkürzung Wo und Anfangsbuchstaben, offensichtlich von Namen. Paula knurrte draußen. Erschrocken wischte Engwart die Mappe mit dem Taschentuch ab, steckte sie wieder in die Tasche und stellte diese schnell in die Ecke.
Vor dem Haus stand sein Gartennachbar Gumsch, der jetzt fast das ganze Jahr auf dem Grundstück verbrachte. Er lehnte an seinem Fahrrad und sprach mit dem Hund. „Ich habe mich schon gewundert, dass dein Hund hier sitzt, Lothar.“
Engwart zog die Tür zu und erzählte ihm von dem gestrigen Gespräch und dass ihn nun das Auto und die unverschlossenen Türen neugierig gemacht hätten. Er versuchte die Türen des Lada zu öffnen, doch einschließlich der Kofferklappe war alles verschlossen. „Wenn du ihn im Dorf triffst“, sagte Engwart, „dann sag ihm mal, dass er sein Haus lieber abschließen soll.“
„Wie sieht er denn aus?“ fragte Gumsch.
„So ein Dicker, Anfang fünfzig.“
„Ist ja eine gute Beschreibung, dick sind hier doch fast alle. Na, vielleicht erkenn’ ich ihn daran, dass einige Leute um ihn rumstehen und sich wundern. So nach dem Motto von diesem ostpreußischen Witz – kennst du den?“
Engwart lachte. „Den hast du mir schon fünfmal erzählt: Hier im Dorf is eener, den kennt keener ...“
Als Bergfeld nach dem Essen ins Zimmer trat, klingelte das Telefon. Er meldete sich, machte sich Notizen und fragte, wann der Bericht komme. Dann informierte er Windisch: „Die Pathologie. Keine neuen Erkenntnisse. Der Mann starb durch die Schüsse in den Rücken, alles Kugeln aus einer sowjetischen Makarow, acht Komma fünfundsechzig Millimeter. Zuerst die Schüsse von hinten, davon war der zweite ein Herzschuss und schon tödlich, danach noch der Kopfschuss. Wie eine Hinrichtung. Als wolle man sicher gehen, dass der Mann auch wirklich tot war.“ Er überlegte.
Windisch sah ihn aufmerksam an, fragte jedoch nicht. „Todeszeit war vorgestern Nacht zwischen dreiundzwanzig und ein Uhr. Der Tote ist etwa zweiundzwanzig Jahre alt. Zweiundzwanzig“, wiederholte er leise. „Er hatte zwei Komma vier Pro Mille Alkohol im Blut – vorher hat er Vollkornbrot, Mettwurst und reichlich Speck sowie Salzgurken gegessen. Sieht nach den Freunden aus...“
Bergfeld starrte auf seine Notizen und fuhr fort: „Eigenartig ist die Tätowierung am inneren Handgelenk, dort wo das Uhrarmband sitzt. Das hatte Wagner ja schon gesehen: die Zahl vierzehn. Und der junge Mann hatte sich vor etwa drei Jahren den linken Unterschenkel gebrochen. Alles gut verheilt. Unter seinen Fingernägeln keine Haut- oder Blutspuren, keine Spuren einer Schlägerei oder von Misshandlung. Man muss ihn ganz überraschend niedergeschossen haben. Ziemlich mysteriös, die Sache.“
Windisch blätterte in der Akte „Herbstmord - unbekannte männliche Leiche“, die schon leicht angeschwollen war: Der ausgefüllte Anzeigenvordruck KP 81, die Protokolle vom Telefonanruf, vom Fundort, Wagners KT-Bericht, die Einleitung des Ermittlungsverfahrens und die Befragungsprotokolle. Alle mit der Schreibmaschine und drei Durchschlägen. Sie hatten es so gelernt und waren es so gewohnt. Nun sollten sie bald moderne Computer erhalten, jedenfalls wurde davon gesprochen. Bekannt war allgemein, dass die Dienststelle mit dem kleinen Schild „Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit“ schon mit der neuen Technik arbeitete.
Windisch reichte ihm eine Namensliste. „Teilen wir uns die Befragung der Gäste auf?“
Bergfeld nickte. Seine Gedanken schweiften ab. Seit er den Brief mit der Erbbestätigung des Staatlichen Notariats sowie den Einheits- und Steuermessbescheid für das Haus und das Land seiner Tante erhalten hatte, war er noch nicht in dem Gebäude gewesen. Dabei sollte er sich so schnell wie möglich einen Überblick verschaffen, was in den fünf Zimmern, der Küche und dem Plumpsklo zu reparieren und modernisieren war. Vielleicht konnte er im Winter erst einmal ausräumen, alte Leitungen abreißen und die Zimmerwände von den teilweise dreißig Jahre alten Tapeten säubern. Dann musste er Elektriker und Klempner finden, die ihm neue Leitungen einzogen und gleichzeitig das Material besorgten. Er wusste, dass sie wahrscheinlich die verzinkten Wasserleitungsrohre, Armaturen ebenso wie Elektrokabel in ihren Betrieben klauen und die Arbeiten nach Feierabend schwarz machten würden. Doch das war so üblich auf dem Land. Nur die LPG, Konsum, HO oder staatliche Betriebe wie das Möbelwerk erhielten Baumaterial oder Handwerkerleistungen nach Plan zugeteilt. Die wenigen wirklich wichtigen Baumaterialien wie Steine oder Zement, die es als sogenannten Bevölkerungsbedarf über die Bäuerliche Handelsgenossenschaft gab, waren schon an Freunde und Verwandte der dort Angestellten verkauft, bevor sie im Bauhof abgeladen wurden. Dass er bei der Polizei war wusste man, doch wehe, er würde gegen diese Methoden strafrechtlich vorgehen; zumindest in Klosterwalde würde er nicht mal mehr ein Glas Sauerkirschen bekommen, falls mal eine Lieferung den Weg zum Konsum fand. Allerdings betraf das noch mehr seine Frau Marion, die manchmal sogar in der Einkaufsschlange die Wirtschaftsmängel verteidigte und von unsinnigen Hamsterkäufen sprach, wenn im Sommer Erdbeeren geliefert wurden und jeder gleich zwei, drei Stiegen kaufte. Mit ihr würde er sowieso noch Ärger haben -- sie lehnte es stur ab, in das Haus zu ziehen, nicht einmal ansehen wollte sie es sich. Gesprochen hatten sie die letzten beiden Tage sowieso nicht, da sie sich nur kurz gesehen hatten. Und heute Morgen im Auto, als er sie ärgerlich gefragt hatte, was sie eigentlich so spät noch immer im Betrieb mache, war sie ihn giftig angefahren...
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