Als Wagner gehen wollte, kam Hauptmeister Windisch, ein dunkelhaariger junger Mann, der trotz größter Mühe seinen sächsischen Dialekt nicht ganz unterdrücken konnte. Niemand wusste, warum er nach dreijähriger Dienstzeit beim Wachregiment des Staatssicherheits-Ministeriums Feliks Dzierszynski im Alter von dreiundzwanzig Jahren zur Polizei gekommen war; vielleicht war er auch abkommandiert worden. Jedenfalls folgte die ältere Gruppe der Kriminalisten Wagners Überlegungen, dass es bei Windisch kein politischer Fehltritt sein konnte. Wäre er sonst sofort Hauptmeister geworden und hätte man ihn gleichzeitig für die Offizierslaufbahn bei der Kriminalpolizei vorgesehen? Bergfeld hatte sich in den zwei Jahren seiner Kripozugehörigkeit meist aus solchen Gesprächen und den hin und wieder kritischen politischen Diskussionen heraus gehalten. Natürlich ärgerte er sich über das Verbot, in der Zeitung von Gewaltverbrechen zu berichten oder Fahndungsmeldungen zu veröffentlichen. So hatte ein Serientäter im Laufe von vier Wochen drei Pilzsucher ermorden können, weil die Menschen mit keinem Wort auf die Gefahr hingewiesen worden waren und dem Täter ahnungslos vertraut hatten. Oder er ärgerte sich zum Beispiel darüber, dass ein junger Mann aus Marienwerder nach achtzehn Einbrüchen in Wochenendgrundstücken schon nach einem Jahr wieder entlassen wurde und die nächste Serie von zwanzig Einbrüchen begehen konnte, während ein betrunkener Bernauer Jugendlicher, der im Vorjahr zum Republiksgeburtstag eine Fahne abgerissen hatte, zu drei Jahren Haft verurteilt worden war und immer noch einsaß. Überhaupt war Politik nicht seine Sache, und wäre seine Frau nicht Parteisekretärin im Möbelwerk und hätte ihn bei häuslichen Diskussionen nicht immer wieder auf sozialistischen Kurs gebracht, wäre er wahrscheinlich trotz seines Wunsches, zur Kripo zu wechseln, nicht einmal in die SED eingetreten. Ihre Tochter Sylvia war da ohne Ambitionen und hatte sich nichts vorschreiben lassen.
Windisch grüßte fröhlich und warf sein Notizbuch auf den Schreibtisch. „Was erreicht?“ fragte Bergfeld. Wagner blieb erwartungsvoll stehen.
„Ja, ein bisschen vage zwar, doch etwas mehr, als heute Morgen.“ Bergfeld hatte enttäuscht festgestellt, dass es bisher nicht einen einzigen konkreten Hinweis auf die Tat gab. Was ihn besonders ärgerte, war wieder ihr demütigendes Abklappern der russischen Offiziershäuser. Entweder hatten die Frauen ihnen die Tür vor der Nase zu gemacht, hatten angeblich „nix deutsch“ verstanden und dann – schließlich hatte er vier Jahre Russisch in der Schule – auf seine russische Frage geantwortet: Holen Sie Genehmigung vom sowjetischen Kommandeur. Nur eine jüngere Frau meinte, in der Nacht in der Nähe einen Streit in russischer Sprache gehört zu haben.
„Na, los, spann uns nicht auf die Folter“, sagte Wagner.
Windisch setzte sich, nahm sein Notizbuch und las die biographischen Angaben des Pächters vor, die eine Pächterin war. Sie wohnte in Basdorf, war achtundvierzig Jahre, vorher Kellnerin in Schönwalde gewesen und seit drei Jahren nun selbständige Gastwirtin. Die Gaststätte, einsam an der Chaussee nach Wandlitz gelegen, war jährlich nur vom 15. März bis 5. November geöffnet. Nach einem Urlaub kellnere sie wieder, bis sie am 5. März die Gaststätte für die nächste Saison öffne.
„Ist ja ganz interessant“, sagte Bergfeld ungeduldig, „aber was hast du konkret ermittelt?“
„Sie hatte vorgestern Abend zwölf Gäste ...“
„Und davon kann sie leben?“ wunderte sich Wagner.
Windisch zuckte die Schultern. „Wenn die genug saufen. Jedenfalls kannte sie alle bis auf einen etwa fünfzigjährigen Mann und eine hübsche, junge Frau, so um die fünfundzwanzig. Sie fuhren ein Auto mit Berliner Kennzeichen, offenbar ein Pärchen, das fremd ging und das irgend wo in der Nähe eine Datsche hat.“
Wagner wollte wissen, wie er zu dieser Schlussfolgerung käme. „Die Wirtin, diese Frau Brigitte Diekmann, hat den Mann zwei-, dreimal im Sommer gesehen, allerdings mit einer anderen, älteren Frau.“
Wagner nickte. „Hört sich logisch an.“
„Die anderen zehn kannte sie namentlich, wenn meist auch nur die Vornamen.“ Windisch las sie vor.
Als der Name Müller fiel, fragte Bergfeld: „Und sein Vorname ?“
„Kurt. Also Kurt Müller.“
„Doch nicht der Dicke Kurt aus Wandlitz?“ fragte Wagner. Der Lebensmittel- und Feinkosthändler aus Bonzendorf – so wurde Wandlitz in den umliegenden Orten oft abschätzig wegen der Siedlung mit den Politbüromitgliedern genannt -- war bis Berlin bekannt. Hier gab es immer Halbliterflaschen Pils aus mehreren bekannten Brauereien, hier gab es Brause und Selters sogar an den heißesten Sommertagen. Außerdem bot er auch Import-Süßigkeiten und Delikatessen an, wie sie sonst nur in den sogenannten Deli- oder Hortexläden der Großstädte verkauft werden durften. Das verdankte er nicht nur seiner händlerischen Umtriebigkeit. Man munkelte, er sollte auch deshalb bevorzugt beliefert werden, weil sich der sowjetische Botschafter Kotschemassow bei Honecker einmal heftig beschwert hatte, als dem dicken Kurt die Warenlieferungen gekürzt wurden. Kotschemassow wohnte in einer schönen Villa am Wandlitzer See und seine Frau kaufte oft beim dicken Kurt ein.
„Nein, der andere, der Moor-Kutte aus Bernau“, sagte Windisch. „Der stellvertretende Vorsitzende vom Meliorationsbetrieb.“
Bergfeld schüttelte staunend den Kopf. „Mit dem habe ich gestern Abend noch gesprochen. Wenn ich das gewusst hätte.“
„Sie konnten drei Männer dem Wachregiment im Walddorf zuordnen, dazu eine jüngere Frau. Die anderen kamen aus der Umgebung.“
„Gab es irgend welchen Ärger?“ fragte Bergfeld.
„Ich weiß nicht, drei Mann haben sich wohl gestritten, aber nur verbal, mit Worten. Es ging um Geld, irgend eine Abrechnung. Dann hat ein Jens Holbrecht sich eingemischt, hat wohl geschlichtet, also das Normale in einer Kneipe.“
„Holbrecht“, sagte Wagner leise. „Das arme Schwein.“
Bergfeld nickte und Windisch sah sie fragend an. Er kam aus Diedersdorf in Sachsen und kannte im Gegensatz zu seinen beiden Kollegen weder die Geschichte des Barnim noch die vielen Geschichten aus der Umgebung. „Jens Holbrecht ist so schwer verletzt worden, dass er nur knapp überlebte und eine Menge Narben zurückbehalten hat. Vor allem im Gesicht...“
Wagner ergänzte: „Bis vor einem Jahr war er verheiratet, mit einer fetten, wirklich hässlichen Frau. Aber die hat ihn dann auch sitzen lassen. Seitdem säuft er -- immer still, unauffällig“
Vom Hof drang das Aufjaulen eines Wartburgs hoch, die beiden Mechaniker bastelten immer noch am Funkwagen. „Wie ist es passiert, ein Brand im Haus?“ fragte Windisch.
Wagner schüttelte den Kopf. „Man fand ihn neben einem Feuer. Offensichtlich war er vorher an einen Baum gefesselt worden, wie beim Indianerspielen. Aber im Alter von siebzehn Jahren...“ Wagner schüttelte den Kopf. „Über dreißig Prozent der Haut verbrannt, angeblich hatte er die Täter nicht erkannt, sie waren vermummt.“
Die Tür öffnete sich und Major Neuburger kam herein. „Wie sieht’s aus? Ich warte auf Ihren Bericht.“ Er blickte Wagner an und seine Nervosität war unverkennbar.
„Hier, Genosse Major“, sagte Wagner betont dienstlich. Er reichte ihm die zweite Mappe und fuhr fort: „Wir haben mal zusammengetragen, was wir wissen. Viel ist es nicht.“
Neuburger öffnete den dünnen Ordner, schloss ihn aber sofort wieder und musterte Bergfeld. „Hinweise auf die Identität des Opfers?“
„Nein. Auch unsere Befragung der Anwohner hat nichts ergeben, die sowjetischen Familien haben sich dabei sehr zurück gehalten.“ Er sah betont unschuldig auf seine Notizen. „Nur eine jüngere Frau, ihren Namen wollte sie -- wie üblich bei den Freunden -- nicht sagen, hat draußen gegen Mitternacht erregte Stimmen gehört. In russischer Sprache. Sie wohnt Haus achtzehn.“
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