Neuburger schluckte die Erklärung ohne Kommentar. Er gehörte zu den Offizieren im Kreisamt, die sofort jede Andeutung von Kritik an dienstlichen Anordnungen oder ironische Bemerkungen zum Verhalten der sowjetischen Militärs, die von ständiger Furcht vor Verrat oder imperialistischer Spionage geprägt waren, rigoros unterbanden. Die anderen beiden waren ein dicker Hauptmann, den man sowieso nicht ernst nahm, und ein verknöcherter alter Kommunist, der so dumm war, dass sogar sein Dienstgrad Unterleutnant nach dreißig Dienstjahren eine Überbewertung war. Dafür war er der gefährlichste, denn jeder wusste, dass er die kleinste kritische Äußerung als Diffamierung oder Hetze gegen die DDR der örtlichen Stasi-Dienststelle hintertrug. Er machte nicht einmal einen Hehl daraus, sondern brüstete sich, damit treu und ergeben seiner Partei zu dienen.
„Unsere einzige Hoffnung sind die Gäste aus dem Eichkater“, sagte Windisch. „Wir müssen alle befragen, die zwischen einundzwanzig Uhr und Schankschluss um dreiundzwanzig Uhr gegangen sind. Die Wirtin jedenfalls hat außerhalb ihrer Gaststätte weder Fremde bemerkt noch eine Auseinandersetzung oder Schüsse gehört.“
Neuburger nickte. „Ich sehe mir Ihren Bericht gleich an, Genosse Wagner. Der Obduktionsbericht ist noch nicht da?“
„Nein“, erwiderte Bergfeld. „Ich werde nachher mal anrufen.“
„Scheint ein komplizierter Fall zu werden“, sagte Neuburger und es war nicht zu übersehen, dass ihn irgendetwas bedrückte. „Aber zur Not haben wir ja immer noch eine Variante offen, oder?“ Er warf Wagner einen undefinierbaren Blick zu.
„Aber wirklich nur zur Not“, erwiderte der. „Jetzt gehe ich erst mal essen, das wird heute noch ein langer Tag. Vorhin haben sie einen Einbruch in ein Wochenendhaus in Biesenthal gemeldet.“
Manche Wochenendhäuser waren auch im Winter gemütlich, sobald sie durchwärmt waren. Der Journalist Lothar Engwart wohnte in einer sogenannten Arbeiter- und Wohnungsbau-Genossenschafts-Wohnung, für die er Eigenleistungen erbracht und einen Bauzuschuss gezahlt hatte.
Dieses Kapital wurde beim Umzug zwar zurück gezahlt, doch der Vorteil in der AWG war der Mietpreis; er betrug für zweiundsechzig Quadratmeter einundfünfzig Mark. Nach dem Auszug seines inzwischen 25jährigen Sohnes bewohnte er mit seiner Frau Christa allein die drei Zimmer – ein ungewohntes Privileg, denn es gab trotz strenger Wohnraumbewirtschaftung kaum gute Neubauwohnungen auf dem normalen Wohnungsmarkt. Der Nachteil seiner Anfang der sechziger Jahre fertiggestellten Wohnung war die Ofenheizung. Gasheizungen gab es nur gegen Devisen, also durch Geschenke irgend einer Tante oder eines Onkels aus dem Westen.
Insofern bedeutete es für ihn kein Problem, auch hier im Wochenendhaus den Ofen zu heizen. Nachts schalteten sie einen alten S-Bahn-Heizkörper an, den sie im An- und Verkauf erworben hatten, neue Heizlüfter oder Radialheizungen gab es wegen der Energieprobleme kaum einmal zu kaufen. Darüber hinaus hatte er aus dem bis zum Moor reichenden Wald schon so viel Bruchholz heran geschleppt, dass es neben den billigen Braunkohlebriketts selbst bei strengem Winter für die nächsten zwei Jahre reichte.
Sie hatten lange geschlafen, dann in dem gemütlich warmen Verandazimmer gefrühstückt und nun blickte Lothar Engwart in den Garten. Die Bäume hatten ihre letzten Blätter abgeschüttelt und am Himmel zogen dicke, dunkle Wolken dahin. „Das war’s dann wohl für dieses Jahr“, sagte er.
„Ich denke, das war’s noch lange nicht“, meinte seine Frau. „Es wird noch ein stürmischer Herbst.“
„Du meinst am Sonnabend die große Demonstration – und was dann vielleicht noch folgt?“
Er half ihr beim Abräumen und sie unterhielten sich darüber, was die Demonstration der Geistesschaffenden, der Schriftsteller und Journalisten auf dem Berliner Alexanderplatz wohl bringen würde. „Am liebsten wäre mir, du würdest zu Hause bleiben – in deinem Alter.“ Es klang ein wenig halbherzig. Obwohl sie sich ständig Sorge machte um ihren Mann, der als freischaffender Sportjournalist gegenüber einigen regimetreuen Redakteuren mit der Meinung nicht hinter dem Berg hielt, teilte sie seine kritische Haltung.
„Was soll passieren, sogar die meisten der fest angestellten Kollegen sind Sonnabend dabei.“
„Und wenn die Polizei ...“
„Christa, soll ich in diesen Zeiten zu Hause sitzen? Du willst doch auch, dass sich etwas ändert. Oder?“
Als sie zaghaft nickte, lachte er. Ehe sie etwas erwidern konnte, ging er ins Schlafzimmer, zog sich einen tarnfarbenen Anorak über und setzte den Jagdhut auf. „Jetzt gehe ich erst mal auf die Pirsch.“ Er hatte früher mal Förster werden wollen und verwendete gern Begriffe aus der Jagd. Er nahm den gleichen Weg wie gestern Abend in der Dunkelheit. Rechts auf dem Feld befanden sich frische Wühlspuren der Wildschweine, die sein Hund eifrig beschnüffelte. Er lächelte, als er an die Gänsehaut dachte, die ihm in der Dunkelheit über den Rücken gekrochen war.
Als er um die kleine Wegbiegung kam und zwischen den kahlen Holunderbüschen, Trauerweiden und Birken das Holzhaus sah, wunderte er sich und schaute auf die Uhr. Es war zehn Uhr zwanzig. Der rote Lada stand immer noch an der Einfahrt zum Grundstück, die Fenster waren geschlossen und die Vorhänge zugezogen. Einen Schornstein besaß das Haus nicht, wahrscheinlich heizte man elektrisch. Die Boxerhündin schnüffelte am Auto herum, lief dann ein Stück neben dem versumpften Bach entlang und kam wieder zurück. Engwart überlegte, ob er klopfen und fragen sollte, ob Müller verschlafen habe. Nach kurzem Überlegen ging er weiter.
Auf dem Rückweg eine halbe Stunde später schien alles unverändert und er setzte seinen Weg fort. Kurz darauf wurde er unruhig und fragte sich, ob vielleicht etwas passiert sei. Dann müsste er sich später Vorwürfe machen, dass er nichts unternommen hatte. Engwart lief zurück. Boxerhündin Paula schnüffelte am Auto herum, zeigte aber keine Anzeichen von Unruhe. Er öffnete das Gartentor und wollte die Klinke anfassen. Einen kurzen Moment überlegte er, ob er die Klinke nur vorsichtig mit einem Taschentuch berühren sollte, um keine Fingerspuren zu verwischen. Vielleicht hatten ihn Einbrecher überfallen. Genug Krimis hatte er ja gelesen und er wusste, wie wichtig manchmal solche Kleinigkeiten waren. Aber hier? Er holte trotzdem ein Taschentuch heraus. Auch wenn es vielleicht albern war, aber wer sah ihn denn dabei?
Er befahl Paula, sich vor den Eingang zu setzen. Ihr Sohn Dennis hatte mit ihr die Schutzhundprüfung 1 abgelegt, danach war er ausgezogen und hatte ihnen die weitere Abrichtung überlassen. Paula gehorchte sofort und blickte ihn aufmerksam an, sicherlich fand sie alles sehr aufregend.
Die Eingangstür war unverschlossen, im kleinen Vorraum stand kühle, dumpfe Luft. Engwart ging in den Wohnraum, in dem sie gestern Abend bis gegen einundzwanzig Uhr gesessen hatten. Das Licht brannte immer noch und kämpfte vergeblich gegen die von draußen durch die Vorhänge sickernde Helligkeit an. Eine leere Flasche Kognak lag am Boden, während drei benutzte Gläser auf einem kleinen Beistelltisch standen. Eine zweite Flasche stand halb gefüllt auf dem großen Tisch in der Mitte des Raumes, daneben zwei weitere Gläser, eines leer, das andere offensichtlich ausgekippt, wie ein brauner, halb getrockneter Fleck vermuten ließ.
Einen Moment erfasste Engwart der Drang, die Vorhänge aufzuziehen, doch er ließ es. Er ging wieder zum Ausgang, sah Paula aufmerksam davor hocken und lobte sie: „Brav, Paula, so ist gut. Mach Sitz!“ Der Hund schien vor Freude über dieses Lob sogar im Sitzen mit dem Hinterteil zu wackeln.
Vom Vorraum gingen zwei weitere Türen ab. Die eine führte zu einer Miniküche und stand halb offen. Alles leer, bis auf zwei in weißes Papier gewickelte Päckchen. Offensichtlich waren es nicht ausgepackte Lebensmittel, denn auf dem einem Paket sah er einige mit Kugelschreiber addierte Zahlen, wie es in Fleischereien beim Aufrechnen der Wurst üblich war.
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