Neuburger blickte sinnend in den Wald und dann Richtung russischer Kasernen, die etwa einen Kilometer entfernt lagen. Es war ihm anzusehen, was er dachte. Die Polizei hatte es in den knapp fünfzig Jahren sowjetischer Besatzung mit drei toten Rotarmisten zu tun gehabt; einem Offizier, der 1951 während einer Schlägerei mit seinen Kameraden in einem verrufenen Lokal verstorben und nach dem Verschwinden der anderen Offiziere vom Wirt in einer Nebenstraße abgelegt wurde. Als man ihn fand, wurde der Wirt in die Kaserne geholt, als Mörder beschuldigt und verschwand Richtung Sibirien. Ein Soldat war in einer Nacht des Jahres 1955 betrunken in ein Auto gelaufen und getötet worden, den flüchtigen Fahrer fand man nie. Und einen weiteren Soldaten hatte man 1962 in der Nähe des von Mauern umschlossenen Kasernengeländes erschossen aufgefunden. Dort hatte es nachts öfter geknallt, und die deutschen Bewohner hatten sich gehütet, nachzufragen. So hatte man den Mann erst gefunden, als der sowjetische Kommandeur die deutsche Polizei über einen vermissten Soldaten informierte. Der Soldat war von Tieren angefressen, denn er hatte mindestens ein Vierteljahr tot im Wald gelegen. Bestimmt war er vorher entdeckt worden, doch nach den Erfahrungen mit den bisherigen sowjetischen Aufklärungsmethoden hatte natürlich niemand den Fund gemeldet. „Hm“, sagte Neuburger und nickte. „Nichts Verwertbares. Schusswaffengebrauch und junger Mann ... Wir könnten ja mal bei den Freunden nachfragen. Oder?“
Auch das kannte man von Neuburger nicht. Er hatte sich an Wagner gewandt und überließ ihm die Entscheidung. „Bei allem Glasnost -- die würde ich zu allerletzt informieren. Erst wenn wir sicher sind, dass der unglückliche Bursche kein Deutscher ist“, sagte Wagner. Der Major schluckte, nickte dann wieder und fuhr davon. Bergfeld war zufrieden, dass ihm die Entscheidung praktisch abgenommen war.
Als er abends nach Hause kam, war seine Frau noch nicht da. Er ging zum Postkasten, fand die Zeitung und zwei Briefe. Der große im DIN-A-5-Format sah amtlich aus. Er kam vom Gericht in Bernau, zwei Querstraßen von seiner Dienststelle entfernt. Es ging um die Eröffnung des Testaments. Man bestätigte, dass er Alleinerbe des Grundstücks und Hauses Kreuzbrucher Straße 24 sowie von vier Hektar Land und elf Hektar Wald -- es folgten die Flurbezeichnungen – in der Gemeinde Klosterwalde sei.
Vor vier Monaten war seine Tante Edelgard verstorben und hatte ihm alles hinterlassen. Als einziger Verwandter hatte er sich um sie gekümmert, besonders aufopferungsvoll, so lange er noch Abschnittsbevollmächtigter in Klosterwalde war. Seine Frau wollte das Erbe nicht. Ihre Argumente hatten Bergfeld wütend gemacht: „Damit haben wir nur Ärger! Vermache es der LPG! Landeigentum ist sowieso kapitalistisch und überholt.“ Was sollte er zu solchem Schwachsinn sagen. Und als Rechtsanwalt Beuster ihn vor der Testamentseröffnung fragte, ob er das Erbe annehme, folgte unter dem Tisch ein heftiger Tritt auf seinen Fuß. Nach diesem letzten Versuch seiner Frau, ihn davon abzuhalten, hatte er umso nachdrücklicher „Ja“ gesagt.und mit einer noch nie gespürten Schadenfreude seiner Frau in das wütend verzogene Gesicht gestarrt.
Ab diesem Tag war er also Hausbesitzer. Und fast gleichzeitig musste er nun ein Tötungsverbrechen an einem erschossenen, wahrscheinlich jungen russischen Soldaten aufklären.
Nun wurde ihm klar, wie viel Arbeit im Dienst und gleichzeitig nicht weniger Mühen bei der Renovierung des ziemlich verwohnten Hauses auf ihn zukamen. Und da erschien ihm die Meinung seiner Frau plötzlich gar nicht mehr so falsch. Doch ehe sich da leise Zweifel in seine Überlegungen schlichen, griff er zur Hundeleine und folgte Bully, der schon erwartungsvoll vor der Flurtür saß.
Zur gleichen Zeit brannte in einigen Bungalows am Rottschesee ebenfalls Licht. Die Wochenendsiedlungen um Klosterwalde hatten zu Bergfelds Bereich gehört, in dem er als Abschnittsbevollmächtigter oft auch Anzeigen von Einbrüchen in Bungalows aufgenommen hatte. Wenn er darüber nachdachte, waren diese sogenannten Datschen und die dortigen Einbrüche entscheidende Voraussetzungen für seine Versetzung zur Kriminalpolizei gewesen. Selbstverständlich hatte er sich besondere Mühe gegeben, hatte nächtelang auf der Lauer gelegen, kombiniert, Spuren verfolgt und zusammen mit seinem kräftigen Rottweiler sogar einige Täter auf frischer Tat geschnappt. Sein Abschnitt war kriminalstatistisch der sauberste im ganzen Bezirk Frankfurt/Oder. Und so hatte man schließlich einen schon halb invaliden, zweiundsechzigjährigen Oberleutnant auf seine Planstelle abschieben und dafür endlich den Versetzungsgesuchen Bergfelds zur Kriminalpolizei stattgeben können. Dass sein Eintritt in die Partei als Voraussetzung für den Offizierslehrgang und Beförderung zum Unterleutnant nun belohnt worden waren, gehörte dabei zum System.
Als Bergfeld auf die Straße trat, kam auch aus einem der Wochenendhäuser ein Mann. Er überprüfte seine Taschenlampe, rief einen Boxerhund zurück, der bereits in den dunklen Garten gestürmt war und beruhigte seine Frau: „Das sind doch keine Verbrecher, und außerdem haben sie einen Brief an die Redaktion geschrieben. Es ist also ein offizielles Gespräch.“
„Die wollen sich vielleicht rächen – jetzt weiß doch keiner so genau, wie alles weiter geht“, sagte seine Frau, die ihm auf die Terrasse folgte. „Ich komme in einer Stunde nach.“
„Quatsch. Wie sieht das aus.“
„Ist mir egal. Lass’ den Hund hier, den bringe ich dann mit.“
Auf dem Weg zu einem wenige hundert Meter entfernten Urlaubsbungalow des Meliorationsbetriebs erfasste den Mann eine eigenartige Stimmung. Zwischen großen Lücken in den hochfliegenden Wolkenfeldern glitzerten kalte Sterne. Vom Feld krochen bleiche Nebelschwaden heran. Er kannte jede Rille des Weges, der an dem kleinen, im Moor ausgebaggerten See vorbei zum fast zwei Kilometer entfernten Dorf führte. Doch jetzt in der Dunkelheit, links die unbeweglich stehenden Kiefern, rechts das wabernde Weiß und die Worte seiner Frau im Ohr, kroch ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Es war eine Stimmung, die manche Filmregisseure durch Szenen erzeugten, in denen sie ihren Hauptdarsteller allein in regengepeitschter Dunkelheit zwischen einsamen, abrissreifen Fabrikgebäuden zum Treff mit Verbrechern gehen ließen. Warum muss der allein gehen, fragte sich dann der Zuschauer, sieht der Kerl nicht, dass er in eine Falle läuft?
Dieser Kerl nun war vierundfünfzig, freischaffender Journalist bei einer großen Berliner Tageszeitung und kein Held, der Verbrechen aufdeckte. Oder doch? Er blieb stehen und überlegte, ob er vielleicht doch in eine Falle lief.
Aus Polen und Ungarn wurden Unruhen gemeldet, in der CSSR tat sich ebenfalls einiges, in mehreren Großbetrieben der Republik hatte es tätliche Auseinandersetzungen und Angriffe auf Parteisekretäre und SED-Genossen gegeben. Er war ja kein Genosse, aber ob das die Bereichsleiter des Meliorationsbaus wussten? Vielleicht hatte seine Frau Recht mit ihren Vermutungen, die wollten ihn wegen des Artikels verprügeln, vielleicht sogar ins Wasser werfen.
Er schüttelte den Kopf. Was hatte er denn aufgedeckt? Er hatte eine satirische Geschichte über einen namenlosen Meliorationsbetrieb geschrieben. Dessen mit ausgebaggertem Torf beladenen Lastwagen hatten aus einem drei Meter breiten Feldweg inzwischen eine fast fünf Meter breite Rollbahn auf Ackerland gemacht. Und dies, obwohl eine von der Zeitung „Junge Welt“ mit klassenkämpferischem Eifer betriebene Kampagne alle Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften anprangerte, die nicht jeden Quadratmeter Feldrain für den Anbau von Getreide und Kartoffeln nutzten.
Vor ihm schnaufte es in der Dunkelheit, Äste knackten. Er ließ den starken Strahl der Lampe aufblitzen und erfasste zwei graue, erstarrende Körper. Wildschweine. Sie richteten ihre Köpfe auf ihn, die Augen funkelten und dann jagten sie grunzend davon.
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