Was ist ein Killer? Ein Massenmörder? Ein Serientäter? Jedenfalls jemand, der mehrere Männer oder Frauen umgebracht hat. In dieser Geschichte taucht solch ein Mensch in Brandenburg am Rande Berlins auf, auch wenn er ein Produkt der Fantasie ist. Das heißt, der Text steht wie in jedem Roman mit der Wahrheit auf dem Kriegsfuß. Trotzdem: alles hätte sich ähnlich zutragen können, wenn gewisse Dinge sich so und nicht anders entwickelt hätten. Wo die Wahrheit allerdings ihre Finger im Spiel hat, mag sich mancher Akteur sogar wiedererkennen, denn menschliche Verhaltensweisen ergeben sich nicht nur in Brandenburg zwingend aus bestimmten Situationen. Das ist in einem Roman eben nicht anders als im wirklichen Leben.
Jonas Brix
Der
Brandkiller
Kriminalroman
JONAS BRIX ist Jahrgang 1953. Er war Baufacharbeiter, Spitzensportler, absolvierte ein Journalistik-Studium. Er arbeitete als Redakteur und später freischaffender Journalist bei mehreren Berliner Tageszeitungen und Illustrierten auf den Gebieten Sport, Lokal und Kultur/Feuilleton.
JONAS BRIX veröffentlichte unter anderem Namen mehrere Bücher, Hefte (SF und Krimi) sowie Abenteuer-Erzählungen. Im Moment kommt auch der Roman „Vater aller Morde“ (Hardcover und e-book) heraus. In Vorbereitung ist der Roman „MEIN KAMPF um die drei großen M“.
Copyright: ©2014 Jonas Brix
Verlag: epubli GmbH Berlin, www epubli.de
ISBN: 978-3-8442-9352-4
Teil 1
Wenn Kriminalkommissar Michael Bergfeld an sein erstes Leben als Unterleutnant der Kriminalpolizei zurückdachte, dann erinnerte er sich immer an einen bestimmten Tag. Innerhalb von zwölf Stunden erhielt er damals diesen anonymen Anruf einer Frau, die sieben Minuten vor neun Uhr mitteilte, wo der tote Mann lag. Und zum anderen war es der Brief vom Gericht.
An jenem trüben Oktobertag hatte sich der Sommer noch nicht entschieden, ob er Widerstand gegen die nassen, grauen Luftmassen aus Island leisten oder die von Russland wehenden kalten Winde abblocken sollte. Heraus gekommen war ein Mischmasch aus kühler, durch die Kleidung dringende Feuchtigkeit mit Erkältungsgefahr. Auf jeden Fall hielt die Winterdunkelheit schon alles fest im Griff, als er morgens kurz vor sieben Uhr aus Klosterwalde abfuhr. Damit schien das Wetter der ungewissen politischen Situation zu ähneln, bei der Menschen jetzt im Herbst schon so taten, als sei der gesellschaftliche Frühling bereits angebrochen.
So richtig hatte er sich noch nicht daran gewöhnt, dass seine einundzwanzigjährige Tochter Sylvia zu ihrem Freund nach Berlin gezogen war, denn seitdem musste er sich allein um den neunjährigen und etwas träge gewordenen Rottweiler Bully kümmern. Das hieß, er nahm ihn oft zum Dienst mit, damit er nicht den ganzen Tag allein in der Wohnung hockte. Seine Frau dagegen hatte aus ihrer Erleichterung keinen Hehl gemacht; sie hatte sich oft mit Sylvia gestritten wegen ihres etwas lockeren Lebenswandels, der vor allem darin bestand, dass sie es in ihrem Zimmer und auch in der Küche mit der Ordnung nicht so genau nahm. Und viel mehr noch wegen ihrer gegensätzlichen politischen Ansichten.
Aus diesen Gedanken wurde er an der Ausfahrt des Walddörfchen gerissen, als ihn einer der als Verkehrspolizisten verkleideten Staatssicherheitsleute stoppte. Zwei dunkle Volvos schossen aus dem schmalen Weg und entfernten sich in Richtung Berliner Autobahn. Bergfeld hätte gern gewusst, wer in ihnen saß, denn Honecker und seine treuesten Gefolgsleute um Joachim Herrmann und Mittag waren seit einigen Tagen entmachtet. Sollte der verbitterte Generalsekretär trotzdem noch ins Politbüro am Werderschen Markt fahren?
Zwei Tage zuvor hatte Major Neuburger die Kriminalisten des Kreisamtes zusammen gerufen und plötzlich ganz moderat erklärt, selbstverständlich werde die Deutsche Volkspolizei weiter ihre Aufgaben zum Schutz des Lebens und Eigentums der Bürger der Deutschen Demokratischen Republik mit ganzem Einsatz erfüllen und getreu der Verfassung der DDR ihre Pflicht tun. Dies treffe auch auf eventuelle kriminelle Machenschaften hoher Partei- und Staatsfunktionäre zu. In den Zeitungen waren Berichte über Korruption und Machtmissbrauch höchster SED-Kader aus dem Keller der ersten Seiten immer höher geklettert und dabei umfangreicher geworden. Die neue Führung unter Krenz hatte versprochen, für Offenheit und Aufdeckung aller Vergehen zu sorgen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Leutnant Wagner aus Rüdnitz hatte gefragt: „Und warum erst jetzt?“
Major Wolfram Neuburger hatte die kleinen, grauen Augen in seinem hageren Gesicht wie immer zusammen zugekniffen, wenn jemand eine vom Klassenstandpunkt abweichende Bemerkung machte, verwunderlicher Weise aber nicht weiter darauf reagiert. Rund fünf Wochen zuvor, als Wagner in Vorbereitung der Sicherungsmaßnahmen zum 40. Republikgeburtstag ärgerlich gemurmelt hatte, er könne die Bürger verstehen, die Gorbi feiern wollten, war darauf noch eine lautstarke Zurechtweisung erfolgt. Offensichtlich vertraute Neuburger plötzlich nicht mehr den eigenen Kampfsignalen, die er ihnen jahrzehntelang mit oft sehr schrillen Trompetenstößen in die Ohren geblasen hatte. Er hatte wohl neue Töne gehört, die nun auch die vorderen Seiten der DDR-Zeitungen beherrschten.
Heimlich bewunderte Bergfeld Leutnant Wagner für seine politische Offenheit, die manchmal fast an Tollkühnheit grenzte und im ganzen Polizei-Kreisamt bekannt war. Man hatte ihn mehrmals zusammengebrüllt, vor sieben Jahren sogar zum Unterleutnant degradiert und erst vor einem halben Jahr wieder zum Leutnant befördert. Natürlich gab es mehrere Kollegen, die ihm außerhalb der offiziellen Sitzungen und Besprechungen die Hand drückten oder die seiner Meinung nach Dienstschluss beim Bier zustimmten. Doch vor härteren Strafen hatten ihn zweifellos nur seine moralische Integrität und die Fachkompetenz als Kriminaltechniker gerettet.
An diesem Tag nun war der anonyme Anruf gekommen: im Wald neben der Chaussee nach Wandlitz liege eine männliche Leiche. Hauptmann Koppelt hatte Nachtdienst gehabt und fuhr nach Hause, Hauptmann Braatz war zum Weiterbildungslehrgang auf der Kriminalschule Arnsdorf, so dass Bergfeld als Einsatzleiter mit Kriminalhauptmeister Windisch losgefahren war. Als sie den Mann endlich gefunden hatten, ahnte Bergfeld, warum die Anruferin ihren Namen verschwiegen hatte: Es war mit großer Wahrscheinlichkeit ein junger Soldat aus den großen russischen Kasernen, in denen ein Panzerregiment stationiert war. Nicht nur der deutlich zu spürende Machorkageruch und der kahl rasierte Kopf, auch die abgetragenen Stiefel und die erdbraune Soldatenhose deuteten darauf hin. Der Mann war nur mit einem Unterhemd bekleidet, trug weder eine Armbanduhr noch einen Ring, die Hosentaschen waren leer und in seinem Rücken steckten drei, in seinem Kopf eine Kugel.
„Rufen wir gleich die Freunde?“ fragte Bergfeld den Kriminaltechniker, als der eintraf.
Wagner schüttelte entschlossen den Kopf. „Erst mal untersuche ich alles, dann können wir immer noch entscheiden.“
Er und der Arzt fanden heraus, dass Fundort und Tatort nicht übereinstimmten, der junge Mann etwa sechs bis acht Stunden zuvor erschossen worden, zwischen neunzehn und dreiundzwanzig Jahre alt war und in der Innenseite seines rechten Hosenbeines einen mit Nadelstichen befestigten Autoschlüssel trug. „Wir lassen eine Autopsie machen“, sagte Wagner. Er zog dem jungen Mann Hose und Stiefel aus und packte sie in einen sterilen Plastebeutel. Er hatte sie kaum im Wagen verstaut, als Major Neuburger erschien.
„Schon etwas Relevantes gefunden?“
Wagner zählte auf: „Keine Papiere, keine besonderen körperlichen Merkmale, einwandfreies Gebiss. Wir werden erst nach der Autopsie beginnen können, seine Identität zu ermitteln. Wenn nicht vorher eine Vermisstenmeldung eintrifft.“
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