„Was meinen Sie, ob sein Verschwinden mit den Russen zu tun hat. Ich meine Kurt sein Verschwinden?“ Sie sah ihn ängstlich an.
„Nein, das glaube ich nicht. Die haben schon ganz schön zu tun, wenn sie heimlich raus wollen. Und heimlich einen reinschmuggeln, also das ist wohl noch schwerer.“
Sie nickte erleichtert. Er würde ihr seine Gedanken nicht verraten, die zu dem Fundort des toten jungen Mannes wanderten. Sie mussten die Umgebung weiträumiger absuchen, Leichensuchhunde einsetzen und jede verdächtige Erdscholle aufgraben. „Nein, Müller wird hoffentlich bald auftauchen. Vielleicht hat er eine neue Freundin kennen gelernt und keine Lust, die Frau allein im Bett zu lassen“, versuchte Bergfeld einen etwas anzüglichen Scherz.
Sie kicherte. „Ich weiß nicht, ob man ihm das in seinem Alter noch zutrauen kann.“ Sie wurde wieder ernst. „Aber der Typ ist er nicht, einfach zu verschwinden. Also, ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache.“
Das hatte Bergfeld inzwischen auch nicht mehr. Er verabschiedete sich von Frau Presold und versprach, sie beim ersten Lebenszeichen von Müller sofort zu informieren. Doch daran glaubte er nicht mehr. An das Lebenszeichen.
Der LKW-Fahrer Heinz Koller war in Ruhlsdorf im Einsatz, er würde erst abends zum Betrieb zurückkehren. Bergfeld bat darum, dass man ihn im Revier anrufen und Koller so lange im Betrieb aufhalten möge, bis er käme. Mit dem Auto waren das knapp zehn Minuten. Dann fuhr er zum einzigen Bernauer Imbissstand am Bahnhof, aß zwei Bockwürste mit Kartoffelsalat. Bully hatte er nur eine halbe Bockwurst abgegeben. „Das ist die Strafe dafür, weil du von fremden Frauen etwas annimmst“, klärte er ihn auf. Der Rottweiler sah ihn mit seinen Bernsteinaugen an und war sich keiner Schuld bewusst.
Mit Wagner fuhr er zu Müllers Wohnung und da sie einen Zeugen brauchten, klopften sie an der Nachbartür. Wieder öffnete die alte Frau. Danach machte sich Wagner an das Schloss, und nach dreißig Sekunden konnten sie eintreten. Bergfeld war sich fast sicher, dass sie Müller tot in einem der Räume finden würden. Er tippte auf das Wohnzimmer und eine große, blutige Kopfwunde. Doch sie fanden keinen Müller.
Die Räume sahen aus, wie man sie sich bei einem ordentlichen Junggesellen vorstellte. Keine Blumen, dafür eine riesige Birkenfeige neben dem Fernseher, keine Gläser auf dem Tisch, doch ein gefüllter Aschenbecher. Im winzigen Schlafzimmer stand ein kleiner Kleiderschrank, das Bett war nicht gemacht, nur das Deckbett flüchtig zurückgeschlagen und die Kopfkissen hastig aufgeschüttelt. In der kleinen Küche lagen vier Teller, zwei Tassen, Gabeln, Messer und Löffel und ein Schnapsglas in der Spüle. Auf dem Gasherd, der an eine Propangasflasche angeschlossen war, standen ein Topf und eine Bratpfanne mit angeschimmelten Bratkartoffeln. Die offensichtlich erst später eingebaute Toilette mit einer Duschecke war so klein, dass man sich fragte, wie Müller hier hineingepasst hatte.
Es war eine winzige, niedrige Wohnung mit Mini-Fenstern und so übersichtlich, dass es selbst für ein dreijähriges Kind kein Versteck gegeben hätte. „Ja, vielen Dank Frau Wiehsche“, sagte Bergfeld zu der Alten und schob sie sachte aus der Wohnung. Den Namen Wiehsche hatte er am Türschild ihrer Wohnung gelesen. „Jetzt machen wir alleine weiter.“
„Ich heiße nicht Wiehsche“, sagte die alte Frau, „das ist meine Enkelin. Aber die wohnt bei ihrem Freund. Ich heiße Kubalke.“
„Dann vielen Dank, Frau Kubalke.“ Bergfeld konnte sich denken, wie es zusammenhing: Die Enkelin war in diesen unmöglichen Räumen gemeldet, damit sie in nächster Zeit bei der Vergabe einer besseren Wohnung berücksichtigt wurde, während ihre Oma hier die Stellung hielt. „Wo wohnen Sie denn richtig?“
„Ich komme aus Ruhlsdorf. Aber nachdem mein Mann gestorben ist, kann ich allein den Hof nicht in mehr in Ordnung halten. Da ist es hier schon leichter.“ Sie schlurfte zurück und drehte sich in der Tür noch einmal um. „Was ist denn nun mit Müller, haben Sie ihn noch nicht gefunden?“
„Nein. Wenn er hier auftauchen sollte, sagen Sie ihm bitte, er soll sich sofort bei uns auf der Polizei melden.“
„Der wird woll in den Westen abgehauen sein“, sagte die Alte. „So was dämliches, jetzt wo auch bald die jüngeren rüber fahren dürfen.“ Bergfeld sah ihr verblüfft hinterher. Sie mochte ja alt sein und in einem uralten Gebäude wohnen, ihr Kopf schien noch sehr gut zu funktionieren.
Er durchsuchte zusammen mit Wagner alle Schränke, das Vertiko und die kleine Schrankwand im Wohnzimmer. Sie fanden Müllers Sparbuch, auf dem einunddreißigtausend Mark eingetragen waren. „Die könnte ich jetzt gut gebrauchen“, sagte Bergfeld, „wenn ich nur an die dringendsten Arbeiten in meinem Haus denke.“
„Du musst dir nicht einbilden, dass es damit aufhört“, unkte Wagner. Sie fanden eine Mappe mit Versicherungsverträgen, dem Mietvertrag und anderen Haushaltunterlagen. Und dann sah Bergfeld ein DIN A 5 Kuvert, auf dem in kyrillischen Buchstaben ein Name stand. Oleg Wargaschkin. Wagner hatte sich ein Paar Latex-Schutzhandschuhe übergezogen und griff sich sofort den Umschlag. Vorsichtig zog er die Papiere heraus: die Zulassung für den Lada, siebentausendzweihundert Mark in bar und ein Kaufvertrag in deutsch und russisch. Müller verkaufte Wargaschkin den Lada für achttausendzweihundert Mark.
„Lada, Baujahr vierundachtzig, der ist im Moment mindestens fünfunddreißigtausend wert“, sagte Wagner. Sie sahen sich an. Dann steckte der Kriminaltechniker die Papiere wieder zurück und erklärte, er werde sie erst auf Fingerabdrücke untersuchen. Bergfeld fragte halbherzig, ob er ihn jetzt noch brauche. Sofort knurrte Wagner: „In diesem Lilliputhaus reicht der Platz kaum für einen.“
Auf der Fahrt zur Dienststelle schüttelte Bergfeld den Kopf. Wie sich die Bedürfnisse doch gewandelt hatten. Um 1400 hatten die Hussitten die um 1200 erbaute Stadtmauer berannt. Und diese Häuser im Schatten des fünf Meter hohen Walls in der Nähe des mächtigen Steintores mit dem 28 Meter hohen Hungerturm, seinen Folterräumen, den Gängen und der Gefängniszelle, in der man Todeskandidaten an die eingemauerten Eisenringe kettete, standen höchstens zweihundertfünfzig Jahre. Damals waren die kleinen, geduckten Häuser neben den Befestigungsanlagen modern gewesen. Inzwischen war Bernau von damals 2000 auf rund 12 000 Bürger angewachsen, die in Häusern der Jahrhundertwende, die meisten jedoch schon in den neueren Blöcken aus den dreißiger Jahren wohnten. Wunschziel junger Paare und Familien aber waren die wenigen Plattenneubauten mit Zentralheizung. Und er freute sich auf sein Klosterwalder Haus. Ja, er blieb dabei: Da konnte man sich alles nach eigenem Geschmack gestalten.
In der Dienststelle überlegte er, ob er bei Marion anrufen und ihr mitteilen sollte, dass es heute Abend wieder später würde. Einer von ihnen musste den ersten Schritt machen, sonst schwiegen sie sich nur noch an und gingen sich weiter aus dem Weg. Doch warum sollte er nachgeben? Er hatte sich nichts vorzuwerfen; sie war eigenartig und abweisend geworden und musste plötzlich in ihrem Betrieb Überstunden machen, in dem es für sie immer nur die Schicht zwischen sieben Uhr und sechzehn Uhr gegeben hatte. Sonst war sie nur alle zwei Wochen Montagabends vom Parteilehrjahr später nach Hause gekommen. Nein, er würde es genau umgekehrt machen: Von Nachdienst sprechen und dann früher nach Hause fahren. Das war etwas hinterhältig. Aber wer spielte in Sachen Liebe und Eifersucht schon ehrlich?
Er nahm Bully mit nach oben und stutzte einen Moment. Windisch und Dielke hatten irgendwo einen Schreibtisch für den Obermeister aufgetrieben und ihn etwas unglücklich in eine Ecke gequetscht. Es war das Äußerste an Mobilar, was ihr Zimmer vertrug. Der Korb für Bully stand nun zwischen ihren beiden Tischen.
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