„Alo, ich weiß wirklich nichts“, sagte er.
„Mit wem war Müller liiert?“
„Liiert?“
„Ja, mit wem hat oder hatte er ein Verhältnis. Hier im Betrieb.“ Langsam wurde Bergfeld ärgerlich.
„Hier im Betrieb?“ fragte Marquart wieder, sprach aber sofort weiter, als er Bergfelds Blick sah. „Da ist eine Kollegin aus der Buchhaltung, Frau Presold, und vorher wohl eine Frau Mertke. Die arbeitet als Baggerfahrerin.“ Er machte eine Pause. „Das sind aber alles nur Gerüchte, wissen tu ich gar nichts. Seine geschiedene Frau hat hier auch mal gearbeitet, jetzt ist sie Verkäuferin in der Fleischerei Hassler am Bahnhof.“
Bergfeld hatte sich die Namen notiert. Es war nicht viel und führte nicht in die Richtung, die er eigentlich ansteuerte. Doch wo nichts war, konnte man nichts finden. Oder man musste wo anders weitersuchen. „Das war alles?“ fragte er.
Marquart nickte. „Das reicht doch, oder? Ich bin seit zwanzig Jahren treu, immer nur eine Frau...“ Er blinzelte Bergfeld an, als erwarte er Widerspruch, doch der überlegte nur, was diesen kräftigen, dicken Müller so attraktiv gemacht haben könnte. Sein Aussehen und der dicke Bauch bestimmt nicht. Aber bei Frauen wusste man ja nie, das sah er ja bei Marion. Irgendetwas verbarg sie vor ihm. Etwas politisches konnte das nichts sein, da nahm sie kein Blatt vor den Mund, im Gegenteil. Er holte seine abschweifenden Gedanken zurück, bedankte sich bei Marquart und fragte, wo die Buchhaltung zu finden sei. Ehe er sich verabschiedete, gab er Marquart Müllers Tasche.
„Sehen Sie bitte nach, ob etwas fehlt oder ob Ihnen etwas auffällt.“ Natürlich hatte er das Buch mit den Zahlen, den Buchstaben und seltsamen Rubriken herausgenommen.
Marquart sah die Ordner durch, blätterte herum und blickte in alle Fächer. Entweder war er sehr gründlich oder er suchte noch etwas. „Ja, was soll ich sagen, es sind seine Arbeitsunterlagen. Und diese Sache, die hat uns eine Zeitung eingebrockt...“ Er hielt Bergfeld den Ordner mit dem Artikel über den verbreiterten Feldweg anklagend entgegen.
„Haben Sie dazu etwas unternommen?“
„Unternommen? Wir haben den Weg mit ein paar Ladungen Kohlenschlacke planiert.“
Bergfeld nahm sich vor, am nächsten Wochenende nachzusehen, ob es stimmte. „Übrigens, wo arbeitet Müllers Kollege Koller?“
„Koller? LKW-Fahrer. Wir haben jetzt drei Baustellen. Das müsste die Einsatzleitung wissen. Gleich neben der Buchhaltung.“
Im Vorzimmer stand die Sekretärin vor Bully und fütterte ihn mit einer Bockwurst. Der Hund sah schuldbewusst zu Bergfeld hin. „Du bist mir ja ein Polizeihund“, schimpfte der Unterleutnant, was Bully nicht davon abhielt, sich schnell den letzten Bissen zu schnappen. „Er ist in den letzten zwei Jahren etwas aus der Übung gekommen“, erklärte er und marschierte mit einem Hund zur Buchhaltung, der einen sehr zufriedenen Eindruck machte. Endlich brauchte ihn sein Herrchen wieder.
In dem großen Raum saßen vier Frauen und Bergfeld fragte sich, was die wohl den ganzen Tag zu tun hatten. Er ließ es sich von Frau Presold, geschieden und neunundzwanzig Jahre alt, in einem kleinen Nebenzimmer erklären. Sie war eine nicht unattraktive Frau mit einem winzigen Busen, doch breiten Hüften und kräftigen Beinen. Die Affäre mit Müller tat sie ein wenig zu lässig ab, fand Bergfeld. Während sie sich eine Zigarette ansteckte und tiefe Züge inhalierte, erklärte sie, schließlich sei sie geschieden, gesund, vital und sexuell normal veranlagt, auch wenn sie leider keine Kinder bekommen könne. Sie habe gerne Spaß mit Männern. Dabei sah sie ihn an, als könne sie sich auch mit ihm viel Spaß vorstellen.
Bergfeld wurde verlegen. War das die Art der jüngeren Frauen oder fühlte er sich wegen der Spannungen mit Marion nur so verklemmt? „Wie lange waren Sie mit Müller zusammen?“
„Mit Kutte war ich etwa ein halbes Jahr zusammen – ein großzügiger Mann“, sagte sie, als wolle sie seine nächste Frage gleich mit beantworten.
„Großzügig – finanziell oder vielleicht auch bei einem eigenen kleinen Seitensprung?“
„Finanziell, meine ich. Seitensprung gibt’s nicht bei mir, wenn ich mit jemanden zusammen bin. Entweder richtig oder gar nicht.“
„Wissen Sie, warum Müller geschieden wurde?“
„Es lag wohl an seiner Frau. Der Kutte war ein großer Steher, wenn Sie wissen, was ich meine.“ Sie lachte ein wenig ordinär und stieß eine Rauchwolke in seine Richtung. „Seiner Frau war das zu viel. Ich brauche sowas.“
Bergfeld räusperte sich. Auch das hatte er nicht unbedingt wissen wollen. Doch die Richtung des Gesprächs war von ihr bestimmt worden. „Letzte Frage dazu: Sind Sie noch mit Herrn Müller liiert,
das heißt, noch zusammen?“
„Ich weiß, was liiert ist. Nein, seit einem viertel Jahr nicht mehr.“
Sie sah ihn an, als warte sie auf die Frage: Aus welchem Grund? Bergfeld vermutete, sie würde ihm dann stolz mitteilen, es sei in diesem Fall selbst dem fünfundzwanzig Jahre älteren Steher Kurt Müller wohl zu viel geworden. „Könnten Sie sich vorstellen, wo Herr Müller ist, war er schon mal verschwunden?“
„Nein, absolut nicht. Dass er mal einen getrunken hat über den Durst, kam schon vor. Aber am anderen Tag war er dann wieder im Dienst.“
„Wissen Sie etwas über kleine Nebengeschäfte, zum Beispiel mit den Freunden...“
„Ja, da war er ziemlich fleißig. Hat Benzin verkauft, auch hier im Betrieb, den Liter mindestens fünfundzwanzig Pfennig billiger als an der Tankstelle. Er kannte da wohl zwei Russen, Offiziere ...“ Sie überlegte und Bergfeld hatte den Eindruck, dass sie mit Freude aussagte. Vielleicht hatte sie mit ihrem Kutte noch eine Rechnung offen. „Nein, ob beide Offiziere waren, weiß ich nicht. Einer bestimmt und einer hieß Oleg, aber ob das der Offizier war?“
„Kannten Sie die beiden persönlich?“
„Kannten ist übertrieben. Sie kamen vor vier, fünf Monaten mal zu Kurt in die Wohnung, als ich bei ihm war. Ein dunkler Typ, kleiner als Sie, ein ziemlich gefährliches Gesicht, und ein jüngerer, blonder, etwas größer als Sie vielleicht. Beide in Zivil.“
„Und woher wissen Sie, dass mindestens einer Offizier war?“
„Der Blonde erschien mir zu jung dafür, und außerdem hat er ihn mal angesprochen. Die Siezten sich, und er sagte: Towarischtsch Kapitan. Ein bisschen russisch kann ich noch. Ich habe auch verstanden, dass es Ärger mit den beiden anderen geben würde, wenn sie allein so viel verkaufen würden.“
„Wie viel war es denn?“
„Also bei dem einen Mal, ich glaube über vierhundert Liter.“
Langsam begann sich der Nebel zu lichten. Und gleichzeitig baute sich eine Wand vor ihm auf. Wenn es wirklich ein Verbrechen unter den Soldaten war und Müller da mit hinein gezogen wurde, dann endeten ihre Möglichkeiten dort, wo sich die grün gestrichenen Tore der Panzerkaserne schlossen. Aber das sollte ihm eigentlich keine schlaflosen Nächte bereiten, wenn es Müller nicht betraf. Und doch konnte er den Gedanken an den jungen Soldaten nicht beiseiteschieben, auch er hatte eine Mutter, einen Vater und vielleicht Geschwister, die unruhig und verzweifelt auf ihn warteten. „Würden Sie die beiden Russen, ich meine die sowjetischen Soldaten, wieder erkennen?“, fragte er Frau Presold.
„Ja, wahrscheinlich.“ Sie begann unsicher hin und her zu rutschen. Vielleicht war ihr klar geworden, dass sowjetische Soldaten in den Fall verwickelt sein könnten. Und in Verbindung mit dem seit über vierzig Jahren abgeschotteten, geheimnisvollen und bedrohlichen Treiben in den Gebäuden hinter der Mauer, den Panzern und Waffen und fremden, uniformierten Männern spürte sie Unbehagen.
Bergfeld konnte sie verstehen. „Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, wir werden Ihnen vielleicht nur ein paar Fotos vorlegen. Mehr haben Sie damit nicht zu tun.“
Читать дальше