„Wie Sie wollen. Aber nur zu Ihrer Frau“, sagte Windisch.
Kornbacher nickte eifrig und zog die Tür wieder zu. Es wurde jetzt wirklich ungemütlich, und zu sehen war auch kaum etwas. Bergfeld schaltete die schwache Innenbeleuchtung ein.
„Hat sich der junge Mann mit den Brandnarben auch draußen wieder eingemischt?“
„Nein, ich glaube nicht. Er stand so ein, zwei Meter abseits und hat nur zugehört. Jedenfalls, soweit ich es mitbekommen habe. Man achtet ja nicht auf solche Dinge.“
„Gut, wir klären das. Vielleicht müssen wir dazu noch Ihre Bekannte befragen“, sagte Windisch. „Geben Sie uns bitte die Adresse ihrer Wohnung und Arbeitsstelle. Auch die Telefonnummern.“
Einen Augenblick musterte Kornbacher ihn wieder mit ängstlichen Augen. „Im Dienst – das wird doch nicht offiziell, oder?“
Windisch beruhigte ihn und machte den etwas unpassenden Scherz: „Keine Sorge, wir behandeln die Sache diskret. Vorausgesetzt Sie sind nicht die Mörder.“ Kornbacher fand das witzig und meinte, dann hätte er ja nichts zu befürchten.
Bergfeld hatte auch eine Frage: „Wie viele Gäste waren an diesem Abend im Lokal?“ Kornbacher begann mit den Fingern abzuzählen und kam auf zehn. Zwei weniger, als sie ermittelt hatten. Sicherlich hatten ihn an dem Abend andere Dinge interessiert.
Sie begleiteten Kornbacher zu seinem Wagen, in dem seine Frau mit verbissenem Gesicht vor sich hin starrte. Er verabschiedete sich freundlich von den beiden Kriminalisten und beeilte sich, wegzukommen. Als die Rücklichter in Richtung Berlin verschwanden, meinte Windisch: „Jetzt möchte ich mal hören, was Kornbacher seiner Liesel erzählt.“ Dann sah er seinen Kollegen an: „Ich musste die ganze Zeit an Kartoffelsalat und Bratwürste denken und gehe erst mal essen. Kommst du mit auf ein Bier?“
Bergfeld schaute auf die Uhr. „Nein, ich will noch zu Holbrecht nach Schönwalde fahren. Mal hören, was der erzählt. Und spätestens um zwanzig Uhr möchte ich zu Hause sein.“
Unterleutnant Bergfeld kannte natürlich nicht jeden Hof und jeden kleinen Nebenweg im Kreis Bernau, doch wenn man ihm die Lage eines Hauses ungefähr beschrieb, fand er es immer. Holbrechts Haus lag an der Chaussee zum Gorinsee, doch wo, das war in der hereingebrochenen Dunkelheit nicht zu sehen. Zweimal fuhr er an dem kleinen Nebenweg vorbei und musste dann sogar noch aussteigen, ehe er einen noch kleineren Weg entdeckte, von dem aus er durch die kahlen Flieder-, Holunder- und Seidelbastbäume drei Gebäude sah. Im Sommer waren sie wahrscheinlich hinter dem Grün der Blätter versteckt, und auch jetzt verdeckten zwei baumartige Rhododendron und einige Wacholder große Teile des Nebengebäudes. Er schaltete seine Taschenlampe an und orientierte sich.
Ein Hund schlug an, als er die schiefe Eingangspforte quietschend öffnete. Soweit er es orten konnte, kam das Gebell aus dem kleineren Nebengebäude, das rechtwinklig zum Vorderhaus stand. Im Hintergrund ragte eine große Scheune aus der Dunkelheit. Er ging um die Querseite herum und sah durch die Scheibe zwei alte Leute im Wohnzimmer sitzen. Der Mann hatte ein Bier vor sich, seine Frau schlief, es lief eine Sportsendung. Er hörte die laute Stimme des Reporters bis auf den Hof dringen.
Bergfeld klopfte an das Fenster und erst als er dachte, nun springt die Scheibe gleich in tausend Stücke, ruckte der Mann hoch und sah zum Fenster. Er kam an die Scheibe und sah ihn. Im Vorbeigehen rüttelte er seine Frau aus dem Schlaf, dann ging ein Licht über dem Eingang an und die Tür öffnete sich. „Ich wollte zu Jens Holbrecht, bin ich hier richtig?“ fragte Bergfeld.
„Zum wem?“ schrie der Mann. Er war mindestens Anfang achtzig.
„Zu Jens! Jens Holbrecht!“
„Der Jens ist da drüben.“ Er zeigte auf das Quergebäude. „Worum geht es denn?“ Der Mann bat ihn mit einer Handbewegung herein. Im Zimmer stand ein warmes, dumpfes Luftgemisch aus Muffigkeit und Arznei. Es war der Geruch alter Leute, den Bergfeld auch von seinen Eltern kannte. „Ich komme von der Kripo Bernau, es geht nur um eine Auskunft. Jens war Zeuge bei einem Streit.“
„Kripo? Bist du nicht der Abevau aus Klosterwalde?“ fragte der Alte und beugte sich vor. Er musste noch gute Augen haben.
„Ja, war ich mal“, sagte Bergfeld. „Ist Jens allein?“
Der Alte setzte sich wieder und ließ den Fernseher weiter so laut laufen. „Was denn sonst“, erwiderte er bitter. „Es sei denn, ein Kumpel kommt mal zum Saufen vorbei.“
„Jens – ist es Ihr Sohn?“ Bergfeld schrie fast.
„Nee, is unser Enkel. Seine Eltern haben sich vor langer Zeit getrennt. Meine Tochter ...“ Er machte eine resignierende Handbewegung.
„Ich wollte Sie nicht stören.“
„Nee, nee, tun Sie nich.“ Er blickte auf seine Frau, die unbeweglich auf der Couch saß und ihn schweigend beobachtete. „Und er hat wirklich nichts angestellt?“
„Nein, bestimmt nicht.“ Der Raum war überheizt und die Arzneiluft nahm ihm den Atem. So sah es aus, wenn alte Leute am Ende ihres Lebens standen. Was hatten sie früher an solchen und vielen anderen Winterabenden gemacht, ohne elektrisches Licht, ohne Radio oder Fernsehen? Wahrscheinlich hatten die meisten damals auf dem Land gar nicht die siebzig erreicht, auch wenn die Meinung umging, früher sei alles gesünder und echter gewesen. Methusalem. So ein Quatsch. Unter Bergfelds Vorfahren auf dem Dorf war nur eine Großmutter neunundachtzig geworden, alle anderen waren mit sechzig, fünfundsechzig verbraucht und gestorben. Oder viele der männlichen Vorfahren mit zwanzig oder fünfundzwanzig in diesen verdammten Kriegen gefallen. Und dieser Alte sah jetzt noch Sport, trotz Arznei und vielleicht Gicht. „Ja, wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich zu Jens rüber gehen.“ Ihm fiel das Hundegebell ein. „Was hat er denn für einen Hund?“
Der Alte erhob sich. „So’ne Promenadenmischung. Halber Schäferhund und schön wachsam. Aber nicht wirklich gefährlich, es sei denn, Sie greifen Jens an. Haben Sie denn Angst vor Hunden?“
„Normalerweise nicht. Ich habe selbst einen Rottweiler. Aber wenn sie ihren Hof und Hütte verteidigen, weiß man ja nie.“
„Ich komm’ mit.“
Er schlurfte vor ihm hinaus. Er war fast einen Kopf kleiner als Bergfeld und lief gebückt den beiden erleuchteten Fenstern entgegen. Die Vorhänge waren zugezogen, ein gelbes Licht warf langgezogene Vierecke in den Hof. Der Hund begann wieder zu bellen. Der Alte drückte die Klinke, die Tür war verschlossen und er bummerte dagegen. „Jens, mach’ auf. Besuch!“
Kurz darauf öffnete sich die Tür, und Bergfeld musste sich zusammen nehmen. Zwar lag das Gesicht von Jens im Schatten, doch das schwache Hoflicht hob die eingepflanzten Hautteile und dunklen Stellen, die eckige, wie fahle Plastik wirkende Nase, die Hautwellen und Narben der Operation noch hervor.
Der Hund stand leise knurrend neben Jens Holbrecht und der Alte beruhigte ihn. „Kommen Sie rein“, sagte Jens und ging voraus. Der Alte brummelte einen Gruß und schlurfte zurück.
Als sie ins Zimmer traten, schien das gleichmäßig helle Licht das Gesicht ein wenig zu glätten. Die Narben ließen die Verbrennungen, die Schmerzen und die Operationen ahnen, doch sie wirkten nicht mehr so dämonisch wie im Halbdunkel. Jens deutete auf eine rote Sitzgarnitur. Dies hier war eine andere Welt, zwar auch bieder und solide, so, wie man sie eben in den Möbelgeschäften bekam, doch gegenüber dem Plüschzimmer der Großeltern erschien sie verhältnismäßig modern. Das ganze Zimmer war mit Holz ausgekleidet, auch die Decke. Saubere, sorgfältige Arbeit und Bergfeld überlegte sofort, ob diese Ausstattung zumindest für ein Zimmer seines Hauses auch etwas wäre. Hier war die Luft nicht dumpf und arzneibitter, hier hing Rauch in der Luft und leichter Biergeruch. Es erinnerte sofort an eine Kneipe; der volle Aschenbecher, ein halb gefülltes Bierglas und ein kleines Schnapsglas passten dazu.
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