„Ja, aber ich habe nichts gehört. Mit Helm, auf dem Motorrad...“
„Ich meine, nicht nur hören. Auch sehen. Autos, Männer, irgendjemand, der sich auffällig benahm?“
Holbrecht schüttelte den Kopf.
Bergfeld sah sich um. Eine viereckige Wanduhr zeigte zehn Minuten vor acht. Jetzt wollte er eigentlich schon zu Hause sein. Er erhob sich, deutete auf die Holzwände und sagte: „Gefällt mir sehr gut. Ich bin jetzt auch Hausbesitzer geworden und muss eine Menge renovieren. Würden Sie das auch bei mir machen können, in Klosterwalde?“
„Ja, natürlich. Ein Problem wäre nur das Holz.“
„Ich dachte, vielleicht haben Sie da irgend eine Quelle.“ Er griente Jens Holbrecht verschwörerisch an.
Der junge Mann versuchte, zurück zu lächeln. „Ich weiß nicht, ob man solche Geschäfte auch mit Polizisten machen darf.“
„Ich bin ja nicht immer im Dienst.“ Im Hinausgehen fiel sein Blick auf ein Foto, das in einem Bücherregal zwischen Bänden über Lastkraftwagen, Trecker und Feuerwehren stand. Es zeigte eine dicke Frau, deren Kinn irgendwo im Gewabbel unter dem kleinen Mund versteckt sein musste. Ihr hingen strähnige, schwarze Haare vom Kopf. Sie trug ein hellrotes, glänzendes Kleid, das ihre formlose Figur wie eine Wurstpelle umpresste. Dort, wo sich eigentlich der Busen wölben sollte, quoll etwas über einem fassähnlichen Bauch, das wie eine Ringwulst aussah. Es war das Bild einer grundhässlichen Frau, um deren Mundwinkel auch noch ein arroganter Zug lag.
„Meine Frau – wir waren über ein Jahr verheiratet“, sagte Holbrecht stolz. „Nun ist sie nach Bernau gezogen.“
„Geschieden?“
„Ja.“
Während der Fahrt nach Hause überlegte Bergfeld: kein Wunder, wenn dieser armer Hund sich kaputt säuft und raucht. Nicht mal solch eine Frau blieb bei ihm. Dabei hätte jeder normale Mann sich tot gesoffen, wäre er eine so offensichtlich ungepflegte und hässliche Frau nicht los geworden.
Er dachte an seine Marion und lächelte. Was hatte er da für ein Glück. Sie war immer noch ein attraktives Weib, vor allem aber hatte sie eine Figur, die keine Wünsche offen ließ. Ach Quatsch, sie weckte erst die wildesten Wünsche. Doch dieser angespannte
Zustand zwischen ihnen machte ihn deshalb um so nervöser und unglücklicher. Er musste sich wieder mit ihr versöhnen.
Als er nach Hause kam, wurde er nur von Bully begrüsst.
Die Dienstbesprechung am Montagmorgen fiel aus. Major Neuburger und Dienstellenleiter Oberstleutnant Kramer waren zu einer außerordentlichen Besprechung ins Präsidium Frankfurt befohlen worden.
Wagner vermutete, dass es mit der Demonstration am Sonnabend zusammen hing. „Bestimmt wird es neue Anweisungen vom Politbüro geben – in dieser oder anderer Richtung.“ Er grinste in ihre Runde, die aus Hauptmann Koppelt, Pogalla von der Kriminaltechnik, die Hauptmeister Windisch sowie Merkel, die Obermeister Miethe und Seilke und natürlich Unterleutnant Bergfeld bestand. Koppelt war schlecht gelaunt. Er hatte gestern von Neuburger den Befehl erhalten, noch eine Woche Dauerdienst zu machen. Er berichtete kurz, dass es am Wochenende eine Schlägerei gegeben habe, ein betrunkener Mann habe auf dem S-Bahnhof versucht, den Warteraum mit einer Eisenstange aufzubrechen, eine Frau war von ihrem Liebhaber und dessen Freund verprügelt und dann vergewaltigt worden und es hatte einen Einbruch in ein Einfamilienwohnhaus in Zerpenschleuse gegeben. „Wenn ihr nichts besonderes habt, verschwinde ich jetzt.“ Er nickte allen zu und verabschiedete sich mit einem: „Bis heute Abend.“
Dann klopfte es an die Tür. Ein junger Mann in Uniform trat ein, stand stramm und meldete in dienstlichem Ton: „Obermeister Diekelt. Ich soll mich beim Genossen Unterleutnant Bergfeld, Ermittlungsruppe Herbstmord, zum Dienst melden.“
Natürlich grinste Wagner wieder, sagte jedoch nichts. Sie kannten sich alle auf der Dienststelle, doch wollte er in solchen Situationen Disziplin nicht durch Zwischenbemerkungen untergraben.
Bergfeld nickte. Sie hießen also offiziell Ermittlungsgruppe Herbstmord. Neuburger musste gestern einiges entschieden und vorbereitet haben. „Wir besprechen gerade unseren heutigen Tageseinsatz, Sie können gleich daran teilnehmen. Übrigens: morgen kommen Sie in Zivilkleidung.“
Bergfeld war es Recht, dass die Besprechung mit Neuburger ausfiel und wahrscheinlich erst morgen stattfand. So langsam zeichnete sich zwar eine erste Spur ab, doch es waren noch mehrere Protokolle zu schreiben und Ermittlungen auszuwerten. Außerdem steckte der Autopsiebericht immer noch irgendwo auf dem Dienstweg, auch die Ergebnisse der Schusswaffen- und Blutuntersuchung sollten erst heute kommen. Dann wollte er zu Müllers Kollegen Koller und in die Wohnung des Verschwundenen.
Und außerdem hatte er Kopfschmerzen. Bis kurz nach Mitternacht hatte er gar nicht schlafen können und das Gespräch mit Holbrecht so genau wie möglich aufgezeichnet. Er lag schon im Bett, als seine Frau leise ins Schlafzimmer schlich. Morgens war er mit dröhnendem Kopf aufgewacht. Vielleicht kündigte sich da sogar eine Grippe an. Seine Frau war zu Hause geblieben („Wir hatten gestern noch eine Besprechung und fangen erst um neun Uhr an.“), so dass ihm Tausend Fragen auf dem Weg zum Dienst durch den Kopf schossen. Gab es schon einen Verdächtigen, war es eine Auseinandersetzung zwischen sowjetischen Soldaten, waren die Kneipengäste darin verwickelt, wo war Müller – und stimmte das, was Marion sagte? Vor allem die letzte Frage begann ihn immer stärker zu belasten.
Bergfeld begann die Morgenbesprechung mit einem Überblick über den Stand der Ermittlungen; er fiel kurz aus bei der mageren Faktenlage. „Gibt es Ergänzungen oder neue Hinweise?“
„Die Motorradspuren am Meliorations-Bungalow und vom Einbruch in Biesenthal stimmen nicht überein“, erklärte Wagner.
„Das wäre auch eigenartig gewesen“, meinte Bergfeld. „War es auch eine Maschine mit Beiwagen?“
„Ja, aber wahrscheinlich eine zweihundertfünfziger aus Zschopau, Baujahr etwa fünfziger Jahre. Die schleppt was weg.“
„Wurde viel geklaut? Ich habe nämlich mal in Klosterwalde einen Einbrecher geschnappt, vor drei Jahren, auch eine schwere Maschine, aber ich weiß nicht mehr welche...“
„Weißt du noch den Namen?“ unterbrach Wagner ihn.
Bergfeld musste die alte Geschichte tief aus dem Gedächtnis holen. „Ich glaube Hausmann, Horstmann, Hansmann... jedenfalls etwas mit Mann. Der Kerl wohnte in Berlin ...“ Ihm fielen einige Details ein. „In Prenzlauer Berg wohnte der und war im Sommer Platzmeister auf einem Dauerzeltplatz in Schmöckwitz. Da sorgte er für Ordnung, keiner durfte eine leere Büchse wegwerfen, und im Herbst knackte er dann rund um Berlin Wochenendhäuser ...“
„Gut, das genügt, um den Vorgang zu finden. Sechsundachtzig?“
„Ja.“ Bergfeld konzentrierte sich wieder auf den aktuellen Fall. „Also ich fahre nachher zum Meliorationsbau, befrage Koller. Falls es von Müller immer noch kein Lebenszeichen gibt, möchte ich mit dir zu Müllers Wohnung fahren, Siegfried.“ Wagner sah ihn fragend an. „Ich denke, so gegen vierzehn Uhr.“
Wagner nickte.
„Sie besorgen inzwischen die Genehmigung zur Hausdurchsuchung, Genosse Diekelt.“ Er gab dem Obermeister die Akte. „Wie heißt du mit Vornamen – wir duzen uns hier.“ Er streckte dem jungen Mann die Hand entgegen und sagte: „Michael.“ Der Obermeister hieß Torsten. Bergfeld wandte sich Windisch zu. „Noch was, Rüdiger. Du hast gestern angedeutet, dass die Wirtin vielleicht etwas wüsste.“
Windisch, der sein Notizbuch in der Hand hielt, klappte es auf und blätterte. „Das wäre erstens ihre Beobachtung, dass am Dienstag vor Müller zwei sowjetische Offiziere im Lokal waren. In Uniform. Sie kannte sie vom Sehen. Und ihrer Meinung nach kannte auch Müller sie, denn bevor er reinkam, unterhielt er sich mit ihnen.“
Читать дальше