„Eben nicht“, sagte ein Major in Uniform leise, doch so deutlich, dass jeder die Worte verstand.
Erstaunlicherweise ignorierte der Oberst die Bemerkung.
„Genosse Oberst“, meldete sich Neuburger, „es gibt ein sehr diffizieles Gebiet, das ich hier einmal ansprechen möchte: Die sowjetischen Soldaten.“ Es wurde totenstill und Neuburger hatte plötzlich das Gefühl, ihm versage die Stimme. „Wie Sie alle wissen, haben wir in Bernau das Panzerregiment, es gab bisher wenig Probleme mit den sowjetischen Genossen in Bezug auf Straftaten und dergleichen. Im Moment haben wir aber ein Tötungsverbrechen an einem jungen Mann, der ein sowjetischer Soldat sein könnte, auch die Täter könnten sowjetische Soldaten aber auch deutsche Bürger sein. Bisher kam noch kein Fahndungsersuchen der Freunde, doch wenn eines kommt, bleiben wir weiter dran oder geben wir alles ab?“
Es war eine Frage, die bisher noch nie in diesem Kreis gestellt wurde. Meist kam die Staatssicherheit, übernahm Akten, Unterlagen und sogar die Leichen. Ob Täter gefasst und verurteilt, ob Recht gesprochen oder etwas vertuscht wurde, niemand erfuhr, was daraus geworden war. „Ich denke, in so einem Fall sollten wir nach der bisherigen Methode verfahren und den Genossen der Staatssicherheit vertrauen.“
„Das hieße, wir sollten den Fall abgeben, auch wenn sich später heraus stellt, dass sowohl der Tote als auch die Täter Deutsche waren und es sich um ein, ich sage es hier in Anführungsstrichen, normales Tötungsverbrechen handelt.“
Der Oberst blätterte wieder in seinen Papieren. „Ein schwieriges Problem, Genossen, das müsst ihr vor Ort entscheiden.“
„Aber entsprechend der gesetzlichen Vorgaben ist es doch entschieden“, meldete Buchsberger sich wieder zu Wort. „Solch ein Tötungsverbrechen muss ganz eindeutig von der Kriminalpolizei bearbeitet werden. Die Vorschriften sagen das doch ganz klar. Und wenn ich Sie vorhin richtig verstanden habe, Genosse Oberst, dann haben wir uns bei allen kriminellen Straftaten nur an das Gesetz zu halten. Egal, gegen wen ermittelt wird.“ Er wollte hinzufügen: Sonst hätte sich ja in den letzten Wochen nichts geändert. Doch für solche Äußerungen war es wahrscheinlich noch zu früh.
Außerdem hätte er sich kaum Gehör verschaffen können. Plötzlich sprachen die sonst so disziplinierten Offiziere durcheinander wie bei einer dieser Bürgerdiskussionen. Der Oberst schien sogar erleichtert, dass er nicht noch ähnliche und ins Detail gehende Fragen beantworten musste. Das hatte allerdings auch den Nachteil, dass Neuburger und Oberstleutnant Kramer am Nachmittag auf der Heimfahrt ein wenig verunsichert waren. Wie weit durften sie nun wirklich gehen? Schon die Möglichkeit, auf alle ihnen bisher theoretisch zustehenden Möglichkeiten zu bestehen, machte sie unsicher. Das hatten sie nie gelernt.
Unterleutnant Bergfeld nahm Müllers Tasche, leinte Bully an und ging mit ihm vom Parkplatz zum Hauptgebäude des Melio-rationsbetriebes. Er hatte erst gezögert, den Hund mitzunehmen, sich dann doch dafür entschieden. Bei Bauarbeitern, bei Bauern und Handwerkern waren Polizisten nicht immer gut angesehen. Auch Meliorationsarbeiter, die in Sumpf und Moor, mit Bagger, LKW und auch mit der Schaufel zu tun hatten, gehörten dazu. Ein Rottweiler an seiner Seite konnte da erst mal für einen gewissen Respekt sorgen. Genosse Rottweiler, parteilos, unbestechlich und gefährlich. Aber nicht auf Winderlings heimtückische Art gefährlich. Er grinste. Jetzt begann er schon so zu denken wie Wagner.
„Zu wem wollen Sie denn?“ fragte ihn eine Frau, die an der Tür vor ihm zurückwich und auf Bully starrte.
„Zum Chef. Noch lieber zu Herrn Müller.“
„Müller ist nicht da. Und Herr Marquart hat eine Besprechung.“
Bergfeld erkundigte sich nach Marquarts Büro und marschierte mit Bully ins Vorzimmer des Betriebsleiters. Auch hier wurde sein Hund misstrauisch beobachtet. Nicht einmal, während er der Sekretärin sein Anliegen erklärte, ließ sie den Blick vom Rottweiler, der sie ebenso aufmerksam beäugte. Bergfeld nahm sich vor, diese Reaktion bei späteren Befragungen zu berücksichtigen. Es könnte vielleicht eine gute Taktik sein, einen Verdächtigen durch den Hund abzulenken und zu verunsichern.
Die Sekretärin hatte ihn angemeldet und Marquart kam kurz darauf mit zwei weiteren Männern aus seinem Zimmer. Sie hatten rote Gesichter und wirkten aufgekratzt. Offenbar eine fröhliche Besprechung. Er bat ihn mit einer Handbewegung herein, konnte dabei aber keinen Blick vom Rottweiler lassen. „Mach Sitz!“ befahl Bergfeld, und Bully setzte sich so in die Ecke, dass er das Vorzimmer im Auge behielt. „Das ist ein ausgebildeter Polizeihund, der bewegt sich nicht“, beruhigte er die Sekretärin.
Marquart bat ihn an ein kleines Tischchen, auf dem eine Flasche Korn stand, deutete auf sie und machte eine fragende Bewegung. Bergfeld wehrte ab. „Eine mysteriöse Sache, mit unserem Müller“, begann er und schüttelte den Kopf. „Oder haben Sie ihn schon gefunden?“
Der Unterleutnant gab ihm eine unverbindliche Übersicht über den Stand und fragte dann: „Jetzt bleibt uns nur noch, das Umfeld von Herrn Müller zu überprüfen. Hatte er im Betrieb Probleme?“
„Mir ist da nichts ungewöhnliches bekannt. Ein lockerer... sagen wir mal, ein etwas unkonventioneller Hund ist er ja. Hält sich kaum an feste Arbeitszeiten, aber wenn etwas brannte, dann kannte er kein Feierabend und kein Wochenende. Immer auf Achse und sowieso schwer in eine Norm zu pressen. Naja, seine Welt waren die Felder und Moore, wo unsere Leute im Einsatz waren.“
„Wie sah es familiär aus?“
„Familiär?“ Marquart grinste. „Seine Familie war die Firma. Wir haben ja genug Frauen hier. Und die Kneipe vielleicht. Er war ja geschieden seit einiger Zeit. Ja, mit dem Saufen, da hatte er in letzter Zeit wohl Probleme, glaube ich.“ Er nickte und sein glattes, rundes Gesicht, dem er durch einen dürftigen, hellblonden Schnauzbart wohl so etwas wie ein markantes Zeichen hatte geben wollen, verzog sich. Bergfeld nahm an, es sollte bekümmert aussehen. Falten entstanden trotz der Bemühungen nicht, nur die Augen verschwanden hinter Fettpölsterchen. „Ja, ja, das Saufen“, wiederholte er. Die Flasche auf dem Tisch zog er offensichtlich nicht in seine Betrachtung ein.
„Hatte er eventuell Geldprobleme?“
„Geldprobleme?“ Marquart lachte. „Er lebt alleine, brauchte keinen Unterhalt zu zahlen, sein Sohn ist schon lange aus dem Haus. Die Miete für seine alte Bruchbuche braucht man nicht zu erwähnen, ich glaube er zahlt achtzehn Mark. Und sein Gehalt ist schließlich auch nicht schlecht.“
„Was verdiente er denn so nebenbei?“
„Nebenbei?“ Auch jetzt leitete Marquart seine Antwort mit der Wiederholung einer Frage ein. Er warf dem Kriminalisten einen schnellen Blick zu. „Was meinen Sie mit nebenbei?“
„Überlegen Sie mal.“
Marquart tat so, als überlege er wirklich. „Meinen Sie nach Feierabend oder so?“
„Ja, so in der Richtung.“ In diesem Moment fiel Bergfeld ein, dass vielleicht auch im Meliorationsbetrieb krumme Geschäfte liefen, ähnlich wie die Sache bei den Kiesgruben. In den bei Müller gefundenen Unterlagen hatte er allerdings keinen Hinweis darauf entdeckt, doch das besagte nichts. Er überlegte kurz, was man mit Moorerde für krumme Sachen machen konnte, ihm fiel so auf die Schnelle jedoch nichts ein.
„Vielleicht sind es nur Gerüchte, aber mit den Russen haben viele Leute so ihre Geschäfte gemacht“, sagte Marquart. „Benzin, Wodka, die standen doch auch an der Autobahn. Aber ob Müller ...“
Marquart tat sehr unbedarft, fand Bergfeld. Ein wenig zu naiv. Er schwieg und starrte ihn an. Der Betriebsleiter grinste unsicher, räusperte sich und wurde unruhig. Er deutete erneut auf die Flasche und als Bergfeld den Kopf noch energischer schüttelte, stand er auf und holte ein Glas aus einer Schreibtischschublade. Er goss sich ein und trank.
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