c. Trotz der genannten Unterschiede zeigt sich eine fundamentale Gemeinsamkeit in allen dargestellten Entwürfen: Die Entdeckung und Förderung der Charismen wird als eine wesentliche Aufgabe des Gemeindeaufbaus bestimmt. Ansatzpunkt sind bei Werner Krusche ebenso wie bei Fritz und Christian A. Schwarz die überschaubaren Zellen geistlichen Lebens: vor allem die Mitarbeiter-, Dienst- und Hauskreise. In diesen «kleinen Gemeinschaften kommunikativen Lebens» (Krusche)[881] realisiert sich das allgemeine Priestertum in gegenseitiger Erbauung und Zurüstung. Die «ganzheitlichen christlichen Gemeinschaften» sind der «Übungsplatz für geistliche Gaben»[882] (Schwarz). Christian A. Schwarz hat im Anschluss an C. Peter Wagner den Prozess der Entdeckung der Charismen methodisch zu standardisieren versucht. Durch Fragebogen und detaillierte Aktionspläne soll jedes engagierte Gemeindeglied seine empfangenen Gaben entdecken, inhaltlich bestimmen und einem entsprechenden Dienst zuordnen können. Demgegenüber plädiert Christian Möller, um jeder Unterscheidung zwischen Kerngemeinde und Fernstehenden im Ansatz zu wehren, für eine Entdeckung der charismatischen Möglichkeiten der ganzen Ortsgemeinde. Nicht nur die engagierten Mitarbeiter sind im Blick, sondern die sonntäglichen Kirchgänger ebenso wie «anonyme Christen». Die entscheidenden Schritte bestehen im erglaubenden Entdecken der verheißenen und bereits verborgen vorhandenen Gaben. Damit gewinnt Möller die promissionale Dimension der Charismenlehre zurück. Wie Johann Christoph Blumhardt rückt er das Charisma ins Licht der Verheißung. Diese bezieht sich aber nicht auf ein noch ausstehendes Wirken des Pfingstgeistes und seiner Gaben, sondern auf die bereits verborgen gegenwärtige Wirklichkeit, die nicht durch einen methodisch standardisierten Prozess in die Sichtbarkeit gedrängt werden kann.
d. In nahezu allen dargestellten Entwürfen wird der Gemeindeaufbau im «Spannungsfeld von Charisma und Institution» (Krusche) verortet. Das Spannungsfeld konkretisiert sich in der Unterscheidung und kritischen Zuordnung von tatsächlichen und wünschenswerten Funktionen (Bäumler), von «charismatischer Revitalisierung» und «Veralltäglichung des Charismas» (Kunz), von Ekklesia und Kirche bzw. von Ereignis und Institution (Schwarz). Stehen in der «Theologie des Gemeindeaufbaus» sich die beiden Pole prinzipiell antagonistisch gegenüber, so versucht Christian A. Schwarz in seinen späteren Veröffentlichungen eine kritisch komplementäre Zuordnung. Charisma und Institution sind keine apriorischen Gegensätze, sondern bilden eine spannungsreiche, stets gefährdete und dennoch auf gegenseitige Ergänzung angewiesene Dualität. Damit kommen sich trotz erheblicher Unterschiede in theologischer Ausrichtung, Argumentationsweg und Terminologie Schwarz, Krusche und Kunz in ihren Intentionen nahe. Denn wie nach Schwarz die Verabsolutierung des institutionellen Pols gegenüber dem ereignishaften zu einem erstarrten «institutionalistischem Objektivismus» führt, so bewahrt der Gemeindeaufbau als charismatische Revitalisierungsbewegung nach Kunz die Kirche vor der Veralltäglichung und Versachlichung des Charismas. In ähnlicher Weise ist das Charisma nach Krusche die notwendige Gegenbewegung gegen eine institutionelle Verfestigung der Kirche in Selbstzwecklichkeit und Unbeweglichkeit. Und wie umgekehrt die Verabsolutierung des ereignishaften Pols gegenüber dem institutionellen bei Schwarz zu einem «schwärmerischen Subjektivismus» führt, so bewahrt nach Kunz die Institution die charismatischen Revitalisierungsbewegungen vor Separation und Rückzug aus der Welt. In ähnlicher Weise braucht nach Krusche das Charisma um der Kontinuität und des gemeinschaftlichen Lebens willen institutionelle Ordnungen, damit es sich nicht in Selbstüberhebung verliert. Gemeindeaufbau im Horizont der Charismenlehre impliziert demnach weder die theologische Abwertung der Institution zugunsten des Charismas, noch zielt er auf den Aufbau einer charismatischen Gemeinschaft in kritischer Abgrenzung gegenüber der Kirche. Es geht vielmehr in theoretischer wie in praktischer Hinsicht um die Wiederherstellung bzw. Wahrung der «Charisma-Institution-Balance» (Kunz)[883].
Insgesamt lässt sich feststellen: Alle dargestellten oikodomischen Entwürfe versuchen in jeweils unterschiedlicher Weise, die Charismenlehre aus der pastoralen Usurpation zu befreien und ihre ekklesiologische bzw. oikodomische Bedeutung wiederzugewinnen. Zugleich überwinden sie das enthusiastische Verständnis der Charismen und ihre Einengung auf wunderhafte Phänomene wie Krankenheilung, Prophetie und Glossolalie. Dies geschieht durch die Aufnahme von Käsemanns Ausweitung des Charismabegriffs ins Ethische und Soziale hinein (Möller, Bäumler), durch Abgrenzung vom korinthischen Enthusiasmus, in dessen Linie sowohl das Weber’sche Charismakonzept als auch zum Teil das Charismenverständnis der pfingstlerisch-charismatischen Frömmigkeit gesehen wird (Kunz, Bäumler, Möller, Krusche) oder durch eine an den neutestamentlichen Charismenlisten orientierte Rekonstruktion einer Vielzahl von Gaben, die neben den außergewöhnlichen auch eher unscheinbare Charismen wie die «Gabe der Barmherzigkeit» oder die «Gabe der Seelsorge» beinhaltet (Wagner, Schwarz). Damit ist die sich seit Irenäus anbahnende (→ 2.1.1) und durch Tobias Pfanner definitorisch fixierte Entwicklung zu einem Verständnis der Charismen als « dona miraculosa antiquae ecclesiae » (→ 2.1.6) eingeholt und revidiert. Der «Rauhreif», der nach Urs von Balthasar seit der montanistischen Krise «auf die christliche Charismatik» gefallen war,[884] hat im Licht einer exegetischen Rückbesinnung auf die paulinische Charismenlehre zu weichen begonnen und die Bahn für die Wiedergewinnung ihrer aktuellen theologischen Relevanz geebnet.
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