3.5.4.3 Die gemeindekybernetische Strategie
Das theologische Kriterium der «Funktionalität» wird von Christian A. Schwarz nicht nur pneumatologisch, sondern auch schöpfungstheologisch durch Adaption und Integration des biokybernetischen Ansatzes Frederic Vesters begründet.[756] Unter «Kybernetik» versteht Vester die «Erkennung, Steuerung und selbsttätige Regelung ineinandergreifender, vernetzter Abläufe bei minimalem Energieaufwand»[757]. Quelle kybernetischer Erkenntnisse ist dabei die Natur, das «größte[ ] und erfolgreichste[ ] Organisationssystem, das wir kennen»[758]. In ähnlicher Weise sei die «gemeindekybernetische Strategie» der «Versuch, die Natur und damit Gottes Schöpfung nach Prinzipien zu durchforsten, die weit über die Biologie hinausreichende Geltung haben»[759]. Voraussetzung dieses Erkenntnisverfahrens sei nicht nur die Gleichsetzung von Schöpfung und Natur, sondern die Annahme einer Analogie von Natur und Reich Gottes bzw. Gemeinde. Sie sieht Schwarz durch die alttestamentliche Weisheitstradition und die Gleichnisreden Jesu hinreichend bestätigt.[760] Es gebe «gemeinsame Grundprinzipien»[761], «reale Gesetzmäßigkeiten, die in der Natur, wie im Reich Gottes gelten»[762]. Die immanent erklärbaren natürlichen «Automatismen» des organischen Wachstums seien theologisch als Ordnungen des Schöpfers zu verstehen und haben daher nicht nur im natürlichen, sondern auch im geistlichen Bereich ihre Geltung. «Der ‹Automatismus› entpuppt sich bei näherer Betrachtung als ‹Theomatismus›.»[763]
Die Entdeckung und Anwendung naturgegebener Prinzipien durch die gemeindekybernetische Strategie befreie den Gemeindeaufbau vom Machbarkeitswahn. Indem sie die von Gott in die Schöpfung gelegten «Automatismen» ausfindig mache und für den Gemeindeaufbau nutze, werde Gemeinde nicht aus eigener Kraft gebaut. An die Stelle einer «Gemeindeaufbau-Technokratie» trete der biotische Ansatz, die «natürliche Gemeindeentwicklung».[764] Sie ziele auf die «Freisetzung der Wachstumsautomatismen, mit denen Gott selbst seine Gemeinde baut»[765]. Das heißt, es gehe ihr darum, «Gottes Wachstumsautomatismen in der Gemeinde zum Zuge kommen zu lassen»[766], damit das Ereigniswerden von Gemeinde «von selbst» geschehe.[767]
3.5.4.4 Charisma als Qualitätsmerkmal und Wachstumsfaktor
Ein grundlegendes biotisches Prinzip, das sowohl in der Natur wie in der Gemeinde Geltung habe, ist nach Christian A. Schwarz die Relation von Qualität und Quantität. Schwarz grenzt sich dabei bewusst von einem rein quantitativen Ansatz des Gemeindeaufbaus ab, der nur nach numerischem Zuwachs von Gottesdienstbesuchern oder Gemeindemitgliedern frage.[768] Er wählt stattdessen den qualitativen Ansatz; seine Basis ist die «Hypothese, daß Wachstum in der Qualität auch quantitative Auswirkungen hat»[769]. Quantitatives Wachstum ist nicht das «strategische Ziel», sondern «eine natürliche Auswirkung»[770] und ergibt sich «von selbst», wenn die qualitativen Wachstumsbedingungen gegeben sind. Die «gemeindekybernetische Strategie» fragt folglich nach den «Basisprinzipien» oder «Qualitätsmerkmalen», die quantitatives Wachstum ermöglichen und fördern. Zu diesem Zweck hat das von Schwarz geleitete Ökumenische Gemeinde-Institut (ab 1996: Institut für Natürliche Gemeindeentwicklung) in den Jahren 1994–1996 eine empirische Untersuchung von über 1000 Gemeinden in 32 Ländern auf allen fünf Kontinenten durchgeführt.[771] Das Forschungsprojekt erhebt den Anspruch, durch die Auswertung von Fragebögen und durch den Vergleich der Ergebnisse von wachsenden und nicht-wachsenden Gemeinden auf wissenschaftlichem Wege die wesentlichen qualitativen Faktoren ermittelt zu haben, durch die sich wachsende und stagnierende oder gar schrumpfende Gemeinden signifikant voneinander unterscheiden. Eines der ermittelten acht «Basisprinzipien» bzw. «Qualitätsmerkmale», für die Schwarz universale Gültigkeit «für jede Art von Gemeindeaufbau in jeder Situation»[772] proklamiert, sei die «gabenorientierte Mitarbeiterschaft»[773]: die Entsprechung von Gabe und Aufgabe. Je mehr Christinnen und Christen ihren Gaben entsprechend in der Gemeinde mitarbeiten, desto höher sei der «Qualitätsindex» dieses «Qualitätsmerkmals». Die empirische Untersuchung habe als «Nebenergebnis» gezeigt, dass keines der anderen acht «Qualitätsmerkmale» so große Auswirkungen auf das persönliche und gemeindliche Leben hätte. So würden bei Gemeinden mit einem allgemein hohen «Qualitätsindex» etwa 70% der Gemeindeglieder der Aussage zustimmen: «Die Aufgaben, die ich in der Gemeinde wahrnehme, entsprechen meinen Gaben.» In Gemeinden mit niedrigem «Qualitätsindex» seien dies nur etwa 10%.[774]
Christian A. Schwarz geht nun davon aus, dass dasjenige Qualitätsmerkmal, das in einer Gemeinde am wenigsten entwickelt ist, quantitatives Wachstum und qualitative Fortschritte auf anderen Gebieten verhindert. Ein weiterer Baustein der «gemeindekybernetischen Strategie» ist daher die «Minimumfaktor-Strategie»[775]. Sie basiert auf der Annahme, dass durch eine Gemeindeanalyse die Ausprägung jedes einzelnen Qualitätsmerkmals mathematisch genau als «Qualitätsindex» erfasst werden kann, um den «Minimumfaktor» einer Gemeinde zu finden. Die Praxis der natürlichen Gemeindeentwicklung kann sich nun auf das entsprechende Qualitätsmerkmal konzentrieren und gezielt um eine Verbesserung bemühen. Liegt der «Minimumfaktor» im «Qualitätsmerkmal» der «gabenorientierten Mitarbeiterschaft», hat der Gemeindeaufbau an dieser Stelle anzusetzen, mittels Gabentest die Charismen der Mitarbeitenden ausfindig zu machen und die Zuordnung zu entsprechenden Aufgaben kritisch zu überprüfen.
3.5.5 Zusammenfassung und kritische Würdigung
Christian A. Schwarz verbindet den pragmatischen Ansatz der amerikanischen Church-Growth-Bewegung (Donald A. McGavran; C. Peter Wagner) mit einer theologischen Grundlegung des Gemeindeaufbaus, die er in Korrektur und Fortschreibung der früheren «Theologie des Gemeindeaufbaus» entwickelt hat. Es entsteht eine Gesamtkonzeption, die als «Natural Church Development» mittlerweile zu einer weltweiten Bewegung geworden ist und über 40.000 Gemeinden beeinflusst hat. Der pragmatische Ansatz McGavrans und Wagners bleibt erhalten, denn die konsequente Frage nach erfolgreichen Prinzipien und messbaren Ergebnissen ist weiterhin von großer Bedeutung. Zugleich aber versucht ihn Schwarz von einem «untheologischen Pragmatismus»[776] und einem statischen Ursache-Wirkung-Schema abzugrenzen. Dies geschieht zum einen durch das «funktionale Paradigma». In ihm erscheint das Ereigniswerden von Gemeinde als der stets unverfügbar bleibende Zweck der Institution, der letztlich nur vom Wirken des Heiligen Geistes zu erwarten ist.[777] Zum anderen geht Schwarz in der «gemeindekybernetischen Strategie» von theonomen Wachstumsautomatismen aus, die in Natur und Gemeinde universale Geltung haben.[778] Der pragmatisch-ethische Ansatz der amerikanischen Church-Growth-Bewegung wird somit zwar pneumatologisch und schöpfungstheologisch zu legitimieren versucht und von der Quantität auf das Gebiet der gemeindlichen Qualität verlegt, bleibt aber grundsätzlich in Geltung. Er prägt entscheidend das Verständnis der Charismen. Die Würdigung und Kritik hat an diesem zentralen Punkt einzusetzen.[779]
1. Die Charismen der Gemeindeglieder sind für Christian A. Schwarz wie für C. Peter Wagner in einem methodisch standardisierbaren Prozess zu analysieren und anhand eines vorgegebenen Katalogs zu identifizieren. Sie können daher geplant und gezielt in den Gemeindeaufbau eingebunden werden. Messbar und quantifizierbar ist folglich auch der qualitative Grad der Gabenorientierung, d.h. inwieweit in einer Gemeinde die vorhandenen Aufgaben und Dienste mit den entsprechenden Gaben der Mitarbeitenden übereinstimmen. Schwarz kann somit wie kaum ein anderer Gemeindeaufbau-Theologe konkrete Schritte angeben, wie charismatische Gemeinde nicht nur theologisch gefordert, sondern auch realisiert werden kann. Das Instrumentarium des «Gabentests» und der «Gemeinde-Analyse» machen sie zu einem operationalisierbaren Ziel des Gemeindeaufbaus. Wer diese praktische Umsetzbarkeit prinzipiell kritisiert, muss sich zu Recht von Schwarz fragen lassen, in welchem Interesse er redet und ob er nicht tatsächlich von einem spiritualistischen Denkmuster geprägt ist, dem jegliche Planung und Organisation im Gemeindeaufbau als ungeistlicher Aktionismus erscheinen muss.[780]
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