Während in der «Theologie des Gemeindeaufbaus» der Prozess der Entdeckung und der Identifikation der Gaben vor allem im konkreten Lebensvollzug der Ekklesia verortet wird, versucht ihn Christian A. Schwarz in weiteren Veröffentlichungen zu standardisieren und methodisieren. Hierbei kommt der pragmatische Ansatz der amerikanischen Church-Growth-Bewegung zum Tragen, den Christian A. Schwarz durch C. Peter Wagner kennen lernte. Dessen Buch «Your Spiritual Gifts Can Help Your Church Grow» (1979) hat er ins Deutsche übertragen und hält es für das «beste Buch über geistliche Gaben […], das derzeit erhältlich ist»[692]. Von keinem habe er «mehr auf diesem Gebiet gelernt, als von Peter Wagner»[693]. Daher lehnt sich der 1988 erstmals veröffentlichte, ständig weiterentwickelte und jeweils 1997 und 2001 in völlig neu bearbeiteter Auflage erschienene «Gabentest» sehr eng an Wagners Vorgaben an.[694]
So definiert Christian A. Schwarz in fast wörtlicher Übereinstimmung mit Wagner eine geistliche Gabe als «eine besondere Fähigkeit, die der Heilige Geist jedem Christen – nach Gottes Gnade – gibt und die zum Aufbau des Leibes Christi eingesetzt werden muss»[695]. In der Neuauflage von 2001 wird diese Definition verändert: Das Ursprungssubjekt der Charismen ist nicht mehr der «Heilige Geist», sondern «Gott». Damit versucht Schwarz dem neuen «trinitarischen Ansatz» gerecht zu werden, der diejenigen Gaben, die dem «geschöpflichen Bereich» zugeordnet sind, ebenso als «geistliche Gaben» versteht, wie jene, die heuristisch dem Bereich der «Erlösung» (bzw. dem Sohn) oder dem Bereich der «Heiligung» (bzw. dem Geist) zugerechnet werden können.[696]
In Übereinstimmung mit Wagner geht Schwarz davon aus, dass geistliche Gaben nicht «nur für den Augenblick», sondern «zum lebenslangen Gebrauch» gegeben seien, und dadurch ein bedeutender Hinweis auf die Berufung eines Menschen liefern.[697] Neu gegenüber Wagner ist die Unterscheidung von «manifesten Gaben» und «latenten Gaben».[698] Als letztere bezeichnet Schwarz zunächst nur die Gaben, die möglicherweise zu den bereits vorhandenen, «manifesten» Gaben gehören und sich durch «Experimentieren» als solche erweisen. Nach der Neuauflage des Gabentests von 1997 können «latente Gaben» auch «neue Gaben» sein. Ob es sich dabei um bereits verborgene und neu entdeckte oder neu geschenkte Gaben handelt, sei in der Praxis oft nicht zu entscheiden und ohne besondere Relevanz.[699] Der Begriff der «latenten Gabe» soll vor einem statischen Missverständnis bewahren und den «Blick für Bereiche öffnen, in denen sich in Zukunft Veränderungen zeigen können»[700].
Der Prozess der Entdeckung der Gaben vollzieht sich nach Schwarz in einem mehrteiligen Prozess, der Wagners Fünf-Schritte-Plan entspricht (→ 3.5.1.2). Zur Überprüfung der Ergebnisse bietet Christian A. Schwarz einen «60-Minuten-Gabentest»[701], der von der «Agentur für Gemeindeaufbau und Publizistik» nach der Auswertung von über 20 Gabentests aus dem anglo-amerikanischen Raum entwickelt wurde. Mittels 162 (in der Neuauflage von 1993 bzw. 2001: 180) Testfragen prüft er die emotionale Beteiligung («Freude»), den Wunsch zur Ausübung einer bestimmten Gabe, die bisherige Erfahrung, das Problembewusstsein in dem der Gabe entsprechenden Bereich, die Selbsteinschätzung der vorhandenen Fähigkeit und die Bereitschaft zu einem der Gabe entsprechenden bestimmten Dienst in der Gemeinde. Hinzu kommt ein Fragebogen, in der sich eine Fremdwahrnehmung abbilden soll.
Wie schon in der «Theologie des Gemeindeaufbaus» geht es Christian A. Schwarz auch im «Gabentest» um die konsequente Einbindung der Gaben in den Gemeindeaufbau. Der Entdeckungsprozess führt nicht nur den Einzelnen an den Ort seiner Berufung, sondern zeigt auch der Gemeinde den «Ausgangspunkt für den Gemeindeaufbau»[702]. Durch Erhebung der in der Gemeinde besonders gehäuft vorkommenden Gaben kann ihre spezifische «Gabenkombination»[703] erarbeitet werden. Sie zeigt, was Gott bereits in der Gemeinde gewirkt hat, wo ihre Stärken liegen und welche Aufgaben im Gemeindeaufbau als Nächstes angegangen werden können.
3.5.4 Charisma als Basisprinzip wachsender Gemeinden
Die «Theologie des Gemeindeaufbaus» löste eine äußerst kontroverse theologische Diskussion aus.[704] Im Zentrum der Kritik stand die Unterscheidung von Ekklesia und Kircheninstitution, die u.a. als «dualistische Polarisierung»[705], «strikte Trennung»[706] und «verhängnisvolle Alternative»[707] interpretiert wurde. Sie entspringe einer «unausgereifte[n] Ekklesiologie»[708] und führe zu einer «simple[n] dualistische[n] Kirchentheorie»[709], die die Kirche «theologisch neutralisier[e]»[710], sie dem an sie gestellten geistlichen Anspruch entziehe und dadurch gerade zur Stabilisierung des Status quo beitrage.[711] Christian A. Schwarz versuchte, sich den Anfragen zu stellen.[712] In seinem eigenständigen theologischen Entwurf «Die dritte Reformation. Paradigmenwechsel in der Kirche» (1993) hält er an der grundlegenden Unterscheidung fest,[713] korrigiert sie aber dadurch, dass er den Sprachgebrauch präzisiert und die funktionale Zuordnung des institutionellen und ereignishaften Aspektes von Kirche betont (→ 3.5.4.1). Gleichzeitig entwirft Schwarz durch die Rezeption biokybernetischer Prinzipien die sog. «gemeindekybernetische Strategie» (→ 3.5.4.3). Beide Neuansätze haben Auswirkungen auf die theologische Funktion und oikodomische Relevanz der Charismenlehre (→ 3.5.4.2; → 3.5.4.4).
3.5.4.1 Das funktionale Paradigma
Christian A. Schwarz modifiziert die antithetische Polarität von «Kirche» und «Ekklesia» zu einer funktionalen Zuordnung von «Institution» und «Ereignis».[714] Damit steht die «Kirche» als institutioneller Rahmen nicht mehr der ihr wesensfremden personalen Gemeinschaft der «Ekklesia» gegenüber. Vielmehr sind beide Elemente, das dynamisch-personale («Ereignis») und das statisch-institutionelle («Institution»), konstitutiv für die «Kirche»[715]. Sie ist immer zugleich «Kirche als Ereignis» und «Kirche als Institution».[716] Die Gefahr einer «strikte[n] Trennung»[717] und eines sich gegenseitig neutralisierenden «schiedlich-friedlichen Nebeneinander[s]»[718] zweier Größen wird durch die Wechselbeziehung von zwei zu unterscheidenden, aber untrennbaren Polen überwunden. Theorie und Praxis des Gemeindeaufbaus zielt auf die «Integration von Ereignis und Institution»[719].
Das dynamische Element (Kirche als Ereignis) ist nach Schwarz durch «Glaube, Gemeinschaft und Dienst»[720] konstituiert. Diese «grundlegenden Lebensäußerungen von Gemeinde Jesu Christi»[721] können nicht institutionell garantiert werden. Sie seien unverfügbar und «nicht einfach vorauszusetzen, wo eine Kircheninstitution vorhanden ist, sondern müssen immer wieder neu geschehen»[722]. Kirche als Ereignis könne aber nie im institutionsfreien Raum Wirklichkeit werden. Die Schaffung rechtlich geordneter Institutionen in der Anfangszeit der Kirche sei geschehen, um dem Ereigniswerden von Glaube, Gemeinschaft und Dienst als «Schutz, Bewahrung und Förderung»[723] zu dienen. Die drei Elemente «Lehre», «Sakramente» und «Amt», die das statische Element (Kirche als Institution) kennzeichnen, seien dem dynamischen Element funktional zuzuordnen.[724] Sie können «das Ereignis- und Gestaltwerden von Gemeinde»[725] nicht sichern, aber ihm dienen und es fördern.
Die funktionale Unterscheidung und Zuordnung von Institution und Ereignis ist die Basis des theologischen Paradigmas des Gemeindeaufbaus, das von Schwarz «funktionales Paradigma» oder «Gemeindeaufbau-Paradigma» genannt wird.[726] Es stellt alle institutionellen Elemente in der theologischen Theorie und in der gemeindlichen Praxis unter das Kriterium der Nützlichkeit für das Werden von Glaube, Gemeinschaft und Dienst. «Funktionalität» wird zur entscheidenden nota ecclesiae : «Kriterium für jede Kirche sollte sein, wie nützlich sie für den Gemeindeaufbau ist. In dem Maße, wie sie diesem Maßstab gerecht wird, ist sie ‹wahre Kirche›.»[727]
Читать дальше