Himmelwärts beten
Impuls zum Vaterunser
Dirk Kellner
Impressum
Texte: © Copyright by Dirk Kellner
Umschlag: © Copyright by Dirk Kellner, Photo von Jordan Holiday auf pixabay
Verlag: Dirk Kellner - Am Neugraben 4 - 79585 Steinen - dirk.kellner@posteo.de
Auch als Print-Version bei epubli erhältlich.
Die Bibeltexte werden, soweit nicht anders angegeben, nach folgender Ausgabe zitiert: Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
Vorwort
Himmelwärts beten – und mit beiden Füßen auf dem Boden bleiben. Dies zu lernen und einzuüben ist mein Wunsch für jeden, der dieses Buch in den Händen hält. Ich habe weder den Anspruch, eine umfassende Abhandlung zum Gebet noch einen exegetischen Kommentar zum Vaterunser zu schreiben. Die Impulse sollen lediglich eine Anregung sein, sich selbst mit den Worten Jesu zu beschäftigen und das eigene Beten durch sie bereichern zu lassen.
Die einzelnen Kapitel dieses Buches gehen auf Predigten zurück, die im Rahmen der monatlichen Abendgottesdienste in der Petruskirche Steinen gehalten wurden. Trotz inhaltlicher Vertiefung und sprachlicher Überarbeitung blieb der Stil der direkten Anrede und des generischen Maskulins weitgehend erhalten. Die geneigte Leserin möge sich beim Leser, das höfliche „Sie“ beim liturgischen „du“ wiederfinden.
In den letzten Jahren wurde ich immer wieder gebeten, Predigten zu veröffentlichen. Erst als die Corona-Krise dem umfangreichen Gemeindebetrieb eine Zwangspause verordnete, fand ich die notwendige Muße. Nun habe ich die leise Hoffnung, dass die Rückbesinnung auf das Gebet Jesu einen Beitrag zur Bewältigung der inneren Nöte leistet, die mit den aktuellen äußeren Umständen einhergehen. Während ich diese Zeilen schreibe, sind Gottesdienste noch verboten oder müssen unter besonderen Bedingungen stattfinden. Doch dem persönlichen Gebet sind keine Grenzen gesetzt. Gott, der himmlische Vater, hält keinen Abstand. Wir können ihn jederzeit und überall mit den Worten Jesu anrufen, himmelwärts beten und doch auf dem Boden bleiben. Das Vaterunser kann unser Gebet leiten und bereichern.
Zur Veröffentlichung dieses Buches haben viele Menschen beigetragen. Sie sind sich dessen wahrscheinlich nicht immer bewusst. Stellvertretend nenne ich die Korrekturleser Dorothea Burger, Heidrun Trinler und Martin Rösch. Mein herzlicher Dank gilt euch ebenso wie meiner Frau Susanne, die mich zur Veröffentlichung dieses Buches immer wieder ermutigt und mir den zusätzlichen Freiraum verschafft hat.
Himmelwärts und in die Tiefe
Eine Höhlenerfahrung
Meine Augen benötigten einige Augenblicke, um sich an die plötzliche Dunkelheit zu gewöhnen. Nach und nach ließen die schemenhaften Umrisse immer mehr Details erkennen. Vorsichtig wagte ich die ersten Schritte. Eine sparsame Beleuchtung wurde sichtbar, dann Stützpfeiler und schließlich der Weg in die Höhle, den wir bei unserer Führung nehmen würden. Die Expedition dauerte fast eine ganze Stunde und führte uns zu faszinierenden Tropf- und Edelsteinen. Schließlich näherten wir uns wieder dem Ausgang. Der Schritt ins Freie war ein Schock. Die Sonne strahlte hell vom blauen Himmel. Die bunten Farben des Frühlings brannten grell in meinen Augen, die sich auf das dunkle Grau der Höhle eingestellt hatten. Ich wäre gestolpert, hätte nicht jemand in kluger Voraussicht ein robustes Geländer genau an dieser Stelle angebracht. Dankbar ergriff ich es und konnte mich so Schritt für Schritt in die Wirklichkeit der Welt da draußen zurücktasten.
Dieses Erlebnis kommt mir in den Sinn, wenn ich über das Vaterunser nachdenke. Es ist interessant: Die Bibel erzählt davon, dass Gott nicht nur im Licht (1Tim 6,16), sondern auch im Dunkeln (1Kön 8,12) wohnt. Wenn wir beten, kann es uns daher so vorkommen, als verließen wir die dunklen Höhlen des Alltags und träten in Gottes Gegenwart. Sein Licht umstrahlt uns, seine Liebe und Gnade empfängt uns. Hell und grell heben sie sich von unserem Alltag ab. Darum stolpern manchmal die Worte am Anfang unserer Gebete. Die Augen des Herzens sind noch nicht bereit, Gottes Schönheit zu schauen.
Doch auch die entgegengesetzte Erfahrung ist möglich: Aus dem bunten Alltag kommen wir in die Stille und Gegenwart Gottes. Doch sie umgibt uns zunächst wie ein leerer und unergründlicher Raum, den wir kaum mit unseren Worten zu betreten wagen.
In kluger Voraussicht hat Jesus uns ein geistliches Geländer gegeben: das Vaterunser. Es führt uns Schritt für Schritt in die Tiefe und gleichzeitig himmelwärts – und damit hinein in Gottes Gegenwart.
Das Vaterunser – bekannt und verkannt
Nach einer Umfrage von TNS Infratest erkennen 94 % der Bundesbürger das Vaterunser wieder, wenn es ihnen vorgelesen wird. Fast die Hälfte der Menschen kennt es auswendig. Damit ist dieses Gebet bekannter als die Nationalhymne, deren Text, wenn man einer anderen Umfrage glaubt, nur 44 % ohne fremde Hilfe aufsagen oder vorsingen können. Ich selbst habe nur sehr wenige Bestattungen erlebt, bei denen die überwiegende Mehrheit der Trauergäste geschwiegen hat, als am Grab gemeinsam das Vaterunser gebetet wurde. Doch ich spüre immer noch die bedrückende Atmosphäre dieser Verlegenheit, angesichts des Todes stumm bleiben und anderen beim Beten zuschauen zu müssen.
Das Vaterunser ist bekannt und dennoch verkannt. Nur ein Bruchteil der Menschen betet es persönlich. Selbst für manche Christen, die sich klar zu ihrem Glauben bekennen und regelmäßig in den Gottesdienst gehen, hat das Vaterunser keine große geistliche Bedeutung. Die häufigen Wiederholungen, so sagen sie, hätten es zu einem leeren Ritual werden lassen. „Der Mund spricht die Worte, doch das Herz ist nicht dabei.“ Schon Martin Luther klagte darüber, dass das Vaterunser der größte Märtyrer sei. Jeder plage und missbrauche es.
Diese Gefahr ist nicht zu leugnen. Die Frage sollte doch aber nicht sein, ob wir das Vaterunser beten sollen, sondern wie wir es beten können, damit wir sein Martyrium nicht verlängern! Denn für Jesus ist das Vaterunser das zentrale Gebet, das uns Schritt für Schritt nicht nur in Gottes Gegenwart, sondern auch durch die Tiefen des Alltags führt.
Lehre uns beten
Das Neue Testament berichtet immer wieder davon, dass Jesus sich in die Stille und Einsamkeit zurückzieht, um dort mit seinem himmlischen Vater zu sprechen. Manchmal bleibt er eine ganze Nacht lang in der Gegenwart Gottes – besonders vor größeren Entscheidungen (Lk 6,12). Er redet, schweigt und hört. Die Jünger nimmt Jesus gelegentlich in sein Gebetsleben mit hinein (Lk 9,28). Sie werden Zeugen der einzigartigen Verbindung, die Jesus mit dem Vater pflegt. Sie können spüren, wie Jesus aus dem Gebet Kraft empfängt und Mut schöpft. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sie ihn bald bitten: „Herr, lehre uns beten!“ (Lk 11,1).
In dieser Bitte kann man die Sehnsucht erahnen, ähnlich wie Jesus eng mit Gott verbunden zu sein. Vielleicht klingt sogar eine Spur Traurigkeit an, dass die eigenen Gebete diese innere Vertrautheit und verändernde Energie vermissen lassen. Jedenfalls enthält die Bitte „Lehre uns beten“ zwei wichtige Botschaften: Beten muss man lernen, und Beten kann man lernen.
1. Beten muss man lernen. Beten ist das Luftholen der Seele, und doch ist es uns nicht wie das Atmen als Instinkt in die Wiege gelegt. Der Volksmund sagt zwar, dass die Not beten lehre. Und tatsächlich wenden sich viele Menschen gerade dann an Gott, wenn sie selbst mit ihren eigenen Möglichkeiten nicht weiterkommen. Doch beschränkt sich das Gebet in diesen Grenzsituationen oft auf ein kurzes Bitt- oder Stoßgebet. Sobald sich die Lage geklärt hat, wird die Verbindung mit Gott nicht weiter gepflegt. Wie oft fällt mein eigenes Dankeschön viel kürzer aus als die dringende Bitte?
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