Ernst-Michael Kranich - Pflanzen als Bilder der Seele

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Ernst-Michael Kranich zeigt in feinsinnigen Blumenbetrachtungen und im Nachspüren seelischer Stimmungen, dass Farben, Formen und Gebärden
der Pflanzenwelt mit menschlichen Gefühlen korrespondieren. So entsteht die Anschauung einer Welt, in der Mensch und Natur innerlich zusammengehören. Durch die beeindruckenden Farbfotos von Charlotte Fischer kommt man den Pflanzen noch näher.

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ERNST-MICHAEL KRANICH

PFLANZEN

ALS BILDER DER

SEELE

Skizze einer physiognomischen

Naturerkenntnis

INHALT Zum Thema und zur Methode Schneeglöckchen und Krokus Die Tulpe - фото 1

INHALT

Zum Thema und zur Methode

Schneeglöckchen und Krokus

Die Tulpe

Buschwindröschen und Osterglocke

Das März-Veilchen

Der Aronstab

Physiognomische Metamorphosen

Krokus – Schwertlilie – Gladiole – Freesie

Die Nelke

Wicken und Platterbsen

Glockenblumen

Morphologische und physiognomische Gestalterkenntnis

Löwenmaul, Fingerhut und Königskerze

Die Rose

Die Sonnenblume

Bilder des Sommers und Herbstes

Hahnenfuß – Johanniskraut – Doldengewächse – Eisenhut – Herbstzeitlose

Die Erde: ein beseeltes Wesen im Kosmos

Epilog

Nachwort zur zweiten Auflage

Anmerkungen

ZUM THEMA UND ZUR METHODE

Intention und Inhalt dieser Schrift stehen im Zusammenhang aktueller Fragen, die unsere Zukunft betreffen. Ein wesentliches Fundament unserer Zivilisation, die Naturwissenschaft, hat in den vergangenen Jahren viel von seiner früheren Sicherheit eingebüßt. Vor allem jenes Verhältnis, das der Mensch durch sie zur Natur gewonnen hat, ist unter dem Eindruck seiner Folgen zum Problem geworden. Vielen ist bewusst geworden, dass die Menschheit Gefahr läuft, durch ihre Wissenschaft von der Natur die Natur selbst zu zerstören. Unter dem Eindruck dieser bedrängenden Situation ist nicht nur wie früher zu fragen: Wie weit ist die Naturwissenschaft in der Erforschung der Natur gekommen? Sondern viel grundsätzlicher: Kann sie mit ihren Methoden der Natur überhaupt gerecht werden?

Die neuzeitliche Naturwissenschaft untersucht die Natur durch das Experiment. Ihre Einstellung zur Natur ist manipulativ. So trägt sie den Keim zur Technik, dem großen Faszinosum unserer Zeit, schon von ihrem Ausgangspunkt an in sich. Technisches Denken, das durch die Naturwissenschaft so intensiv gefördert wurde, ist aber nicht ohne Rückwirkung auf die naturwissenschaftliche Theoriebildung geblieben. Die mechanistische Interpretation der Naturvorgänge lässt die Natur als eine komplizierte Maschinerie erscheinen. Die von vielen unbemerkte Okkupation des Naturerkennens durch den technischen Verstand führte zu der fatalen Auffassung: «Wir erkennen einen Gegenstand, soweit wir ihn machen können.» 1So kommt es, dass wir heute nur das «Technikparadigma der modernen Naturwissenschaft» besitzen und «als Angehörige einer technischen Kultur bereits Schwierigkeiten haben, genau zu sagen, was und wo Natur ist». 2

Diese Situation bedeutet ein schwer lösbares Dilemma. Soll der Weg in die Zukunft nicht zu einer immer weiter fortschreitenden Zerstörung führen, dann ist eine andere Einstellung erforderlich. Der Mensch muss für das Leben der Natur, das er durch seine Technik so tief beeinflusst, die Verantwortung übernehmen. Das ist in den vergangenen Jahren vielfach und eindrucksvoll formuliert worden. Wie aber kann man zu einer Sache oder einem Wesen eine moralische Beziehung gewinnen, das man kaum kennt und nicht versteht? Alles, was die Natur außer dem engen Ausschnitt mechanisch ablaufender Prozesse ist, bleibt dem gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Denken hinter den Mauern der eigenen Theorie unzugänglich. Das gilt auch für die Ökologie, die zwar ganzheitliche Systeme untersucht, aber unter höchst eingeengten Gesichtspunkten. Bedingung für ein neues, moralisches Verhältnis zur Natur ist ein Verstehen, das tiefer dringt als die gegenwärtigen Interpretationen.

Nun hat Adolf Portmann vor Jahren darauf hingewiesen, 3dass der Mensch neben der «theoretischen Funktion», die die Natur analysiert, das qualitativ Erlebte in Quantitatives ummünzt und die Bilder der naturwissenschaftlichen Weltdeutung unterwirft, durch die «ästhetische Funktion» noch einen anderen Zugang zur Natur hat. Durch sie erfährt er die Natur in ihren Formen, Farben usw. unmittelbar. Sie lässt den Menschen die Dimension des «Unfassbaren» erleben, jenseits der wissenschaftlichen Rationalität. Diese ästhetische Funktion mit ihrer für den Menschen so belebenden und befruchtenden Wirkung sei viel stärker als bisher zu kultivieren. In der Schule müsse man neben der Naturwissenschaft eine Naturkunde mit dem Ziel eines «savoir de cœur» pflegen.

Diese Auffassung spielt in den gegenwärtigen Erörterungen über eine ökologisch orientierte Erziehung eine große Rolle. Man kann – das ist sicher – keine von Verantwortung beseelte Beziehung zur Natur begründen, wenn das Wissen um die Natur weiterhin von öden, mechanistischen Bildern bestimmt wird. Es ist aber zu fragen: Führt eine Zweigleisigkeit von ästhetischer Naturerfahrung und mechanistischer Naturdeutung weiter? Kommt man aus dem Dilemma heraus, indem man zu dem bisherigen theoretischen Wissen ein ästhetisches Erleben hinzufügt? Auf diese Weise entsteht im Menschen ein Zwiespalt zwischen Herz und Verstand. Denn der Verstand begreift nicht, was als Natur erlebt wird, und das Herz kann sich nicht mit den wesenlosen und sinnleeren Bildern des Verstandes verbinden.

Es reicht nicht, diese zwei Bewusstseinsformen, zwischen denen kein Zusammenhang besteht, nebeneinander zu kultivieren. Hier ist der Punkt, wo etwas oft Postuliertes einzulösen ist, nämlich die Veränderung des Bewusstseins. Sie hätte die Aufgabe, den Zwiespalt zwischen den beiden Bewusstseinsformen durch Ausweitung des Erkennens auf die bisher unerschlossenen Dimensionen der Natur zu überwinden.

Was heißt das im Konkreten?

In der Begegnung mit der Natur erfährt der Mensch Dimensionen, die dem Verstand nicht greifbar sind. Im Erleben des Schönen und Erhabenen ahnt er, dass die Natur mehr ist als das, was die Naturwissenschaft beschreibt. Das Erleben des Unendlichen im Anblick des Ozeans, das Gefühl, in einem Sonnenaufgang sei etwas von den Geheimnissen der Schöpfung anwesend, die Erhabenheit eines Berges oder die Schönheit einer blühenden Sommerwiese – das alles ergreift den Menschen, weil in ihm, wie er meint, tiefere Bereiche der Natur anklingen. Mit Erkenntnis und Wissenschaft haben diese Erlebnisse zunächst nichts zu tun. Sie sind dem Bewusstsein nicht recht greifbar.

Ähnlich ist es mit Erlebnissen, die sich mehr auf Einzelnes beziehen. Auch Pflanzen «sprechen» nicht nur zu den Sinnen und dem Verstand. Sie berühren das menschliche Gemüt. Ein Maiglöckchen «wirkt» innig, der blaue Eisenhut streng. Wir sprechen von der kraftvollen Eiche, der lieblichen Birke und dem bescheidenen Veilchen. Das alles sind Anmutungserlebnisse im Bereich der ästhetischen Naturerfahrung. Ihnen haftet sicher Subjektives an. Aber eines ist unabweisbar: die Dimension des Rätselhaften. Wo der Mensch Rätsel erlebt, weiß er, dass in den Dingen etwas enthalten ist, was in dem bisher Erkannten, möglicherweise aber auch in den verfügbaren Erkenntnismethoden nicht aufgeht.

Wenn es gelingt, das, was man in solchen Anmutungserlebnissen als Rätsel empfindet, mit dem erkennenden Bewusstsein zu durchdringen, dann wird die Kluft zwischen rationaler Klarheit und den unbestimmten Dimensionen des ästhetischen Erlebens überwunden; denn die Klarheit des Erkennens wird in das Gebiet des bisher nur Erlebten ausgeweitet. Wie aber kann man das, was man als Anmutung beim Betrachten von Pflanzen erlebt, bewusst erfassen? Man muss jenen Bereich, der beim ästhetischen Anschauen im eigenen Innern auflebt, genau kennenlernen. Das sind innere Seelenzustände, vor allem Gefühle. Man wird auch die Pflanzen in ihren Formen und Farben eingehend betrachten. Dann kann sich zeigen, inwieweit sich im Menschen bisher verschlossene Bereiche der Pflanzenwelt aussprechen.

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