Als Beispiele nennt Möller nun aber nicht einzelne Gaben der paulinischen Charismenlisten, sondern – auf dem Hintergrund eines verallgemeinernden Charismenverständnisses, nach dem «alles zum Charisma werden kann»[844], – die Gnadengaben des Sabbats und des Sonntags. Wie der Sabbat den Alltag unterbreche und dadurch wieder Atem, «Be-Geisterung», für das Alltägliche gebe, so durchbreche der Sonntag den Alltag und lasse von der Gnadengabe des ewigen Lebens her Licht auf die Alltäglichkeiten des Lebens fallen.[845]
3.6.4 Gegenseitige Mitteilung der Gaben in der Oikodome der Liebe
Die Konzentration auf «Gottes Dienst» im Gemeindeaufbau verbindet sich bei Möller mit einer prinzipiellen Skepsis gegenüber jeder menschlichen Planung und Organisation, die Gemeindeaufbau durch ein Programm operationalisierbar machen will. Er kann in derartigen Versuchen nur einen eigenmächtigen Aktionismus am Werk sehen, der selbst bei der Betonung von Gottes Wirken der Gefahr eines subtilen Synergismus nicht entgehen könne.[846] Wird aber im Sinne der biblischen «Oikodome» Gemeindeaufbau als unverfügbares und verborgenes Wirken Gottes verstanden und ist der «die Menschen immer wieder neu durch Gottes Wort rufende wie immer wieder neu durch die Sakramente von Taufe und Abendmahl einladende Gottes Dienst […] der eigentliche und wahre Baumeister»[847], so können auch die «Schritte zum Gemeindeaufbau» folglich nur im «verbergenden Erglauben von Kirche»[848], im «Wahrnehmen von Gemeinde»[849] und in einem «Haushalten in Raum und Zeit»[850] bestehen. Die Kirche ist im Licht der Verheißung zu «erglauben», nicht zu «ersehen».[851] Die Verborgenheit ihres Wesens soll gewahrt und nicht durch den Versuch einer Sichtbarmachung aufgehoben werden. Vielmehr kann durch das Erglauben von Kirche die vorfindliche Gemeinde so wahrgenommen werden, dass an ihr – vielleicht nur an kleinen Details – die verheißene Wirklichkeit bereits sichtbar wird. Die Gemeinde wird ihres Reichtums und ihrer Gaben gewahr, zu denen Möller auch den «Rhythmus der gegliederten Zeit» (das Kirchenjahr) und die «Orientierung an einem gemeinsamen Raum» (Kirchengebäude) zählt.[852] Durch rechte «Haushaltung» (Oikonomia) werden diese Gaben wieder neu als Geschenke dankbar entgegengenommen, durch die Gott selbst die Oikodome der Gemeinde bewirkt.
Es versteht sich von selbst, dass eine standardisierte Methode zur Entdeckung der geistlichen Gaben und eine Fünf-Schritte-Strategie zur Realisierung der gabenorientierten Gemeinde, wie sie C. Peter Wagner entwickelt und Christian A. Schwarz übernommen hat, bei Christian Möller auf tiefstes Unverständnis und schroffen Widerspruch stoßen müsste. An die Stelle des Vertrauens auf «Gottes Dienst in der Kraft seines Geistes»[853] wäre das Planen und Organisieren des homo faber getreten. Ebenso muss Möller den Ansatz des Gemeindeaufbaus bei den Gaben der Mitarbeitenden ablehnen, denn dadurch würde die Mitte der Gemeinde personalistisch definiert und auf den Kreis der bewussten und engagierten Christen eingeengt. Den Mitarbeitenden würde «geradezu ein Weihestatus gegeben»[854], der sie von den passiven und distanzierten Kirchgängern abhebt. Eine Oikodome der Liebe, die die Verborgenheit des Glaubens wahren und ihn nicht in die Sichtbarmachung drängen will, wird sich einer Grenzziehung zwischen Engagierten und Fernstehenden enthalten.
Wenn es im Gemeindeaufbau in erster Linie um «Gottes Dienst» geht, der in einem Gefälle von sonntäglichem zu alltäglichem Gottesdienst Gemeinde durch Sakrament und Wort baut, so muss auch das Ereigniswerden von charismatischer Gemeinde im Wortgeschehen begründet sein.[855] Damit sind das Entdecken und der Einsatz der Charismen jeder Machbarkeit und Planbarkeit entzogen. Das Ereigniswerden von charismatischer Gemeinde ist ein Geschenk der Gnade, um die Gott gebeten werden will - «vielleicht so ungestüm, wie jene Witwe in Jesu Gleichnis einen gottlosen Richter mit Bitten bestürmen konnte (Lk 18,1–8)»[856]. Im Wirkungsbereich der Gnade kann der Reichtum der Gemeinde entdeckt werden. Durch den im Wort wirksamen Geist kommt es zur «Verwandlung von Fähigkeiten in Gaben»[857]. «Fähigkeiten», die ein Mensch für sich hat und gegen den Nächsten einsetzen kann, werden in «Gaben» verwandelt, die dem anderen dienen.[858]
Das liebende Wahrnehmen der Fähigkeiten und ihre Umwandlung in Gaben kommen ebenso dem Gottesdienst im Alltag der Welt wie dem sonntäglichen Gottesdienst zugute. Möller nennt als Beispiel den Juristen, der seine Fähigkeiten in den Dienst der Gemeinde stellt und sie zu Gaben verwandeln lässt, und den Musiker, der seine musikalische Fähigkeit zu einer Gabe werden lässt, die andere zum Mitsingen bringt.[859] Im Wirkungsbereich der Gnade kann es schließlich zu einer «gegenseitigen Mitteilung der Gaben zur Erbauung der Gemeinde»[860] kommen, durch die immer mehr Menschen ihre Fähigkeiten entdecken und sie als Gaben in den Dienst für andere stellen. Möller verweist dabei auf Schleiermachers Gedanken der «lebendige[n] Circulation des religiösen Interesses»[861]. Schleiermachers Theorie des Kirchendienstes und sein Versuch einer «zusammenstimmenden Leitung der Kirche» versteht Möller als «konsequente Exegese» von 1Kor 12–14.[862] In der Interpretation seiner oikodomischen Bedeutung bündeln sich Möllers zentrale Anliegen:
«Schleiermachers Bedeutung für den Gemeindeaufbau ist […] in seinem Mißtrauen gegenüber jeder Form von geistlicher Erpressung und seinem Zutrauen zum Wirken des Heiligen Geistes in und an der Gemeinde zu sehen. Seine Forderung, ‹die Zuhörer als Christen aufzunehmen, und nicht als solche, die es erst werden sollen› und seine Erwägung, daß die Sache (sc. des Glaubens) vielleicht ‹dadurch wieder zu Stande komme, daß man sie voraussetzt›, ließe sich auf den Gemeindeaufbau so übertragen, daß die Gemeinde gerade dadurch charismatisch wird, daß der Heilige Geist als an und in der Gemeinde schon Wirkender glaubend vorausgesetzt wird und in diesem Vertrauen die ‹lebendige Circulation des religiösen Interesses› zu freier Entfaltung kommt.»[863]
3.6.5 Zusammenfassung und kritische Würdigung
Ausgangspunkt, Mitte und Ziel des Gemeindeaufbaus ist für Christian Möller «Gottes Dienst», der allem menschlichen Planen und Tun vorausliegt. Möller hat damit die von der reformatorischen Theologie wiederentdeckte Praevenienz der Gnade zum oikodomischen Prinzip erhoben und den Gemeindeaufbau den Allmachtsphantasien des Menschen entzogen. Dem Erfolgsstreben des Strategen hält er die Verborgenheit von Gottes Wirken entgegen, dem ruhelosen Aktionismus des Pragmatikers das aufatmende Warten auf Gottes Geist, dem am vorfindlichen Zustand der Kirche Verzweifelnden das befreiende Vertrauen auf Gottes Verheißung. Die paulinische Charismenlehre erweist ihre oikodomische Relevanz gerade darin, dass sie das Zuvorkommen der Gnade konkretisiert. In ihrem Licht kann der Reichtum der Gemeinde erglaubt, erbeten, erhofft und ersehen werden. Zugleich weist die Charismenlehre den Weg zwischen einem geistlosen Pragmatismus, der sich in die Alltäglichkeiten des Lebens verstrickt, und einem weltenthobenen Enthusiasmus, der nicht mehr in die Niederungen des Alltags vordringt. Charisma ist «Begeisterung für das Alltägliche», es weist den Weg von der Höhe des Geistes in die Tiefe des Lebens, so dass selbst Schwachheit und Leiden unter charismatischer Möglichkeit erscheinen.
Diese grundsätzlichen Impulse sind in ihrem Wert kaum zu überschätzen und werden sich als kritisches Korrektiv an jede Konzeption von Gemeindeaufbau legen lassen. Sie können weiter präzisiert, müssen dabei aber auch kritisch bedacht werden:[864]
1. Die Charismenlehre verweist Möller auf die pneumatische Dimension des Gemeindeaufbaus. Der Geschenkcharakter der Charismen macht deutlich, dass es im Gemeindeaufbau nicht in erster Linie um ein Tun des Menschen, sondern um «Gottes Dienst» in der Kraft seines Geistes geht. Gemeindeaufbau als ein charismatisches Geschehen zu verstehen, heißt deshalb, dass in jede Gemeindeaufbaukonzeption eine «Bruchlinie» kommen muss, «die dafür sorgt, dass der Heilige Geist einbrechen und sämtliche Management-Regeln und Erfolgskonzepte noch einmal durcheinander bringen kann».[865] Es ist nun allerdings zu fragen, ob diese berechtigte pneumatologische Relativierung von Programmen und Strategien bei Möller nicht gelegentlich zu einer prinzipiellen Ablehnung jeder Planung und Organisation im Gemeindeaufbau führt. Wie soll und kann dann aber der «unvermeidliche Schritt in die Sichtbarkeit» (Barth) getan werden?[866] Ebenso gefährlich wie eine Identifikation von Charisma und Methode ist doch ein grundsätzlicher Widerspruch zwischen beidem, den Möller im Übrigen für die Seelsorge ablehnt. Könnte dann nicht auch den oikodomischen Strategien und Programmen ein relatives Recht eingeräumt werden, wenn durch Ernstnehmen der charismatischen Dimension gewährleistet bleibt, dass in poimenischer und oikodomischer Hinsicht gleichermaßen gilt: «Alle Methoden [können] noch einmal aufbrechen, ja durchbrochen werden»?[867] Müsste in diesem Zusammenhang nicht auch bedacht werden, dass Paulus die «Leitungskunst» (κυβέρνησις) in 1Kor 12,28 zu den Charismen zählt?[868]
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