Sie schluckte, spürte zugleich Damian an ihrer Seite, und nickte. Ihre Gesichtsmuskeln fühlten sich verkrampft an, so sehr bemühte sie sich um ein nichtssagendes Lächeln.
Auf dem Weg zu Jims Büro erklärte er: „Wir haben uns hier alle mächtig Sorgen gemacht, als dein Freund – wie hieß er doch gleich? John?“
„Jack“
„Ach, ja sicher, Jack. Als der bei deinem Vater aufkreuzte und meinte, du seist entführt worden, hab ich gedacht, mich tritt ein Pferd! Unsere kleine Sydney, das konnte doch nicht stimmen?“
Sie erreichten seine Bürotür und Jim ließ ihnen den Vortritt. Seine Augen kamen sanft und unscheinbar daher, doch als er nun Damian ansah, lag nichts Sanftes mehr in ihnen. Hastig entgegnete Sydney: „Jetzt bin ich ja wieder da, Jim.“ Sie lächelte. „Mir geht’s prima, ihr braucht euch keine Sorgen mehr zu machen.“
Sie erinnerte sich, dass sie schon einmal eine ähnliche Unterhaltung geführt hatte. Damals, als ihr kleiner Bruder Timothy bei dem Unfall ums Leben kam. Bei den Untersuchungen der Polizei hatte sie unzählige Male versichert, wie gut es ihr gehen würde, obwohl jedes Wort eine Lüge war. Nie hatte sie sich prima gefühlt. Nicht einmal gut konnte sie sich fühlen nach diesem tragischen Einschnitt in ihr Leben. Insbesondere, nachdem ihre Mutter kurz danach auf Nimmerwiedersehen verschwand. Damals fühlte sie gar nichts mehr. Innerlich tot existierte sie bloß noch, nichts weiter als eine leblose Hülle…
Sydney schüttelte sich kurz. Sie wollte nicht die Vergangenheit heraufbeschwören. Jetzt war nicht der rechte Augenblick dazu.
Sie und Damian betraten das Büro und ließen sich auf den weichen Stühlen vor Jims Schreibtisch nieder. Kurz blickte sie sich in dem kleinen, zweckmäßigen Raum um.
Die ockerfarbenen Vorhänge waren halb vor das Fenster gezogen, um die Sonne auszuschließen, und eine Pflanze – ein Farngewächs – kümmerte trocken auf der sonst kahlen Fensterbank vor sich hin. Auf Jims Schreibtisch vermisste man Berge von Akten und Papieren. Stattdessen gab es nicht mehr als einen vorzeitlich wirkenden Computer, ein Tischkalender, auf dem erschreckend wenig vermerkt war, sowie einzelne Notizblöcke und eine Lampe. Jim knipste diese an und setzte sich, während er den Hosenbund zuvor noch zurechtrückte. „Nun, Sydney, es ist schön, dass du wieder da bist.“ Er lächelte. „Ich weiß, es ist nicht angenehm, aber möchtest du mir vielleicht erzählen, was geschehen ist? Dein Vater und Jack waren in heller Aufregung und ich gebe zu, auch ich fand das Ganze ziemlich … nun ja… unerwartet.“
Sein Blick schwenkte zu Damian herüber. Dieser lehnte sich entspannt zurück und verschränkte die Arme vor der breiten Brust.
„Das ist ein bisschen kompliziert…“, setzte Sydney an. Was konnte sie sagen? Wie viel durfte sie erzählen ohne gleich als übergeschnappt zu gelten?
„Ich bin sicher, ich werde dir folgen können“, meinte Jim und schaltete den Monitor an. Sydney bemerkte das schwache Zucken Damians neben sich, als der Bildschirm hell aufleuchtete.
„Jack und ich waren in den Wald gegangen, als uns ein Unwetter überraschte.“ Jim nickte. Bis dahin war ihm die Geschichte bekannt. „Es gab eine Hütte, in der wir das Unwetter bis zum nächsten Morgen abwarten wollten.“ Sie blickte hinunter auf ihre schweißnassen Hände und bemühte sich um Gelassenheit. „Wir haben ein Feuer im Kamin entzündet und uns schließlich zum Schlafen hingelegt.“
Damian neigte seinen Körper aufmerksam ihr zu und Sydney überlegte, wie viel ihm wirklich von der Beziehung zwischen ihr und Jack bekannt war. Was hatte er gesehen? Sie erinnerte sich, dass sie und Jack sich geküsst hatten, als sie ein Geräusch bei der Tür gehört hatte. War er da erst hineingekommen? Oder stand er bereits als stummer Zuschauer in einer dunklen Ecke?
Auch Jim beugte sich aufmerksam vor und tippte nebenbei ihre Aussage in den Computer. „Was geschah dann?“, fragte er ruhig und musterte sie.
„Ich konnte nicht einschlafen“, fuhr sie fort. „Ich hielt es irgendwann nicht mehr aus und beschloss, nach draußen zu gehen.“ Kurz hielt sie inne. „Dort stieß ich dann auf Damian.“
Das war zumindest die halbe Wahrheit. Hieß es nicht immer, dass ein guter Lügner möglichst dicht bei der Wahrheit blieb?
Jim machte sich eine kurze Notiz, ehe er wieder aufsah. „Wie kam denn der Schürhaken nach draußen?“
„Der Schürhaken?“, wiederholte Sydney und blinzelte ihn perplex an. Hatte sie etwas vergessen?
„Jack fand den Schürhaken draußen vor der Hütte und meinte, dass es einen Kampf gegeben habe“, erklärte Jim ihr und Sydney erinnerte sich.
Ihr fiel wieder ein, wie sie Damian versucht hatte, damit zu bekämpfen, wie er sie fortgezogen, ihr einen Stoß versetzt hatte und der Klang seiner Stimme ihr das erste Mal einen Schauer durch den Körper jagte. Schweig, dummes Weib! Sie warf ihm einen knappen Blick zu. Erinnerte er sich ebenso daran?
Ihr war heiß geworden und sie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Ihr Lügengerüst stand auf wackligen Füßen, jederzeit in Gefahr zusammenzubrechen.
Damian löste seine Haltung und beugte sich vor, seine Ellbogen auf den Knien ablegend. „Es gab keinen Kampf“, füllte sein tiefer Bariton das Büro.
Jim blickte ihn streng an. „Und wie gelang der Haken dann ins Gras?“
Seine Augen funkelten wachsam, als Sydney hervorstieß: „Ich hatte Angst.“ Zwei Augenpaare richteten sich auf sie und sie schluckte unsicher. „Ich hatte ihn mitgenommen, als ich rausging“, erklärte sie.
„Wovor hattest du Angst?“, fragte Jim.
„Naja“, entgegnete sie. „Es war schließlich dunkel. Weiß ich denn, welche wilden Tiere im Wald umherstreifen?“
Jim schwieg. Der Zweifel war ihm anzusehen, doch er sagte nichts dazu. „Na schön. Und wie habt ihr zwei euch dann kennengelernt? So mitten im Wald? Nachts?“, bohrte er weiter.
Ihr Blick glitt zu Damian hinüber, der gelassen den Polizisten musterte. „Damian machte eine Nachtwanderung“, sagte Sydney. Damian ließ sich nichts von seiner Unwissenheit anmerken, sondern nickte nur zustimmend und Sydney verspürte tiefe Dankbarkeit für seine Ruhe.
„Es ist nachts immer so friedlich“, erklärte er Jim und seine Stimme senkte sich. „Wir kamen ins Gespräch und sie entschied, mich ein Stück zu begleiten.“
„Das haben sie ausgenutzt und sie entführt?“, provozierte Jim ihn.
„Keineswegs.“ Noch immer war Damian gelassen. Nichts sprach dafür, dass ihn dieses Gespräch nervös machte. Ganz anders verhielt es sich bei Sydney. Sie rutschte nervös auf ihrem Stuhl herum und krallte die schweißnassen Finger ineinander. Ihrer Ansicht nach musste Jim längst ihre jämmerliche Lüge durchschaut haben.
„Geht es dir nicht gut, Sydney?“, fragte er plötzlich. Erschrocken riss Sydney den Kopf hoch. „Hm?“ Jim und Damian sahen sie an; Besorgnis las sie in ihren Blicken. In Damians las sie jedoch auch eine leise Warnung. Seine dunklen Augen beobachteten sie und Sydney fühlte sich, wie das Kaninchen vor der Schlange. Sie räusperte sich. „Tatsächlich fühle ich mich etwas unwohl“, erklärte sie. „Die ganze Geschichte nimmt mich doch ein wenig mit.“ Verständnisvoll nickte Jim. „Darf ich kurz eure Toilette benutzen, Jim?“, fragte sie und die Besorgnis der Männer löste sich in Luft auf.
„Selbstverständlich. Vielleicht täte uns allen eine kurze Pause gut“, meinte Jim und lehnte sich zurück. „Es ist gleich den Gang hinunter, die erste Tür links.“
Dankbar der Situation entfliehen zu können – zumindest für den Augenblick – erhob sie sich und ging bemüht gelassen zur Tür. Es fiel ihr schwer, nicht die Flucht zu ergreifen.
Sydney folgte dem genannten Gang. Er war schmal, vergleichbar mit einem Tunnel, zugleich aber in helles weiß gestrichen, was die tunnelartige Wirkung etwas abschwächte. Vor einem einzelnen, schmalen Fenster am Ende stand eine Trinkstation und eine Reihe von Türen führten –vermutlich – zu weiteren Büros oder Lagerräumen.
Читать дальше