Sie erreichten den kleinen Park – eine Grünfläche mit einer Allee aus stämmigen Eichen und Buchen, durchsetzt mit einzelnen pflegeleichten Hecken und Büschen. Der Kies knirschte unter ihren Füßen, die Luft hatte sich mit voranschreitender Stunde merklich abgekühlt und Sydney trat näher an Damian heran – insbesondere, als sie die Gestalt weiter vorne entdeckte, die zwischen den Bäumen hervortrat.
Sie trug einen langen, dunklen Umhang und hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Bei ihrem Anblick überlief Sydney ein eiskalter Schauer und ein flaues Gefühl machte sich in ihrem Magen breit. Die Gestalt trat lautlos auf den Weg und hielt inne, wartete.
Damian verlangsamte seinen Schritt unmerklich. Es war still um sie herum und ohne Hinzusehen wusste Sydney, dass er die Person vor ihnen mit ebensolchem Misstrauen begegnete wie sie selbst.
Sie waren nun auf gleicher Höhe mit ihr und Sydney wagte beinahe aufzuatmen. Das Prickeln auf ihrer Haut sagte ihr deutlich, dass sie ebenfalls gemustert wurden und doch blieb jeder Versuch, das Gesicht der Person zu erkennen, fruchtlos. Die Kapuze hüllte das Gesicht in tiefe Schatten, unmöglich, etwas zu erkennen.
Erleichtert wandte Sydney den Blick ab. Sie passierten die Gestalt, ohne dass diese sich bewegte.
„Sydney“
Es war kaum mehr, als ein Hauch im Nebel, ein leises Flüstern, und ein Arm schoss hervor, um nach Sydney zu greifen. Die Frau – nun war es offensichtlich, dass die Person weiblich war – griff nach ihrem Handgelenk und umklammerte es. Sydney zuckte zusammen. Ein vages Gefühl der Vertrautheit stieg in ihr auf. Sie runzelte die Stirn und kniff die Augen zusammen.
„Lasst sie los!“, knurrte Damian neben ihr. Sein Dolch lag bereits in seiner Hand, bereit anzugreifen, um sie zu verteidigen. Die Klinge glänzte matt in der Dunkelheit.
„Ich muss mit dir reden“, zischte die Frau ihr zu, löste jedoch langsam den Griff und trat einen Schritt zurück. Sydney legte die Hand auf Damians angespannten Arm. „Lass sie“, flüsterte sie.
Jetzt wusste sie, wer da vor ihnen stand.
Zweifelnd warf Damian ihr einen Blick zu. „Diese Frau“, setzte er an, seine Stimme triefte vor mühsam gezügeltem Zorn und Verachtung, „kann froh sein, dass ich ihr nicht den dürren Hals durchschneide!“
„Ich kenne sie, Damian, uns droht keine Gefahr“, sagte Sydney.
Sein Blick richtete sich auf sie, Verblüffung lag darin. „Woher?“
Die fremde Frau räusperte sich. Mit einer geschmeidig fließenden Bewegung streifte sie die Kapuze von ihrem Kopf. Starr verfolgte Sydney, wie ihre Mutter unter dem dicken Stoff zum Vorschein kam. Augen, ebenso grün wie ihre eigenen, hefteten sich auf Sydney.
„Du hast dich verändert.“
Es war eine Feststellung, kühl wie der Herbstwind, doch ihr Tonfall war warm, beinahe liebevoll und Sydney schluckte. Unruhe befiel sie. Sie hatten sich so lange nicht gesehen. „Du hast die Haare kürzer“, sagte sie und bemühte sich, Ruhe in ihre Gefühle zu bringen. Sie war verwirrt angesichts dieser unerwarteten Begegnung und viel zu viele Fragen drangen an die Oberfläche und wollten alle auf einmal gestellt werden.
Kassandra berührte die kinnlangen Spitzen. „Ja, ich war es leid, so eine dicke Matte mit mir herumzutragen“, entgegnete sie ihrer Tochter leise.
„Ich dachte, du hast das Land verlassen.“
Kassandra schlug die Augen nieder. War sie verlegen? Dieser Gedanke schien Sydney derart deplatziert, dass sie ungeduldig die Arme vor der Brust verschränkte. Ihre Mutter zog es vor, die Aussage zu ignorieren, hob den Blick und fragte: „Ist es geschehen?“
Kaum merklich erstarrte Sydney. „Was meinst du?“
Kassandra wandte den Blick zu Damian. „Die Prophezeiung. Ist er es?“
Sydney schluckte. Wie viel wusste ihre Mutter wirklich? Sie erinnerte sich an Lan’tashs Erzählung, dass es eine Zeit gab, in der er ihre Mutter aufrichtig geliebt hatte – es vermutlich immer noch tat. Aber ihre Mutter war lieber schwanger durch das Portal und zurück in ihre eigene Welt gegangen. Sie hatte Lan’tash und der Prophezeiung den Rücken gekehrt, um kurze Zeit später mit Paul ein neues Leben zu beginnen. Sydney erschien diese Verhaltensweise überaus feige. Feige und unehrlich. Die Wut und der Zorn darüber, dass ihre Mutter Jahre danach auch noch sie und ihren Vater im Stich gelassen hatte, erreichte in ihrem Innern ein neues Ausmaß.
Noch während Sydney mit sich und ihrer Enttäuschung rang, wahrte Damian dennoch den Schein der Höflichkeit und neigte den Kopf. „Mein Name ist Damian Ramsey, Madame.“ Er hob den Blick und fixierte Kassandra. „Ich bin Lan’tashs Nachfolger.“
Sydney beobachtete ihre Mutter und fast hatte sie den Eindruck, als gerate sie ins Wanken beim Klang des Namens. Aber vermutlich irrte sie sich, ging es Sydney durch den Kopf. Ihre Mutter war, solange sie sich erinnern konnte, nie sonderlich liebevoll gewesen. Wieso sollte sich ausgerechnet jetzt etwas geändert haben?
„Was zur Hölle tust du hier?“, fragte Sydney. Kühl durchschnitt ihre Stimme den Raum zwischen ihnen. Nein, sie hatte es noch immer nicht verwunden, dass Kassandra die Familie nach Timothys tragischem Unfalltod verlassen hatte. Es reizte sie, dass ihre Mutter nun so überraschend vor ihr stand – noch dazu mitten auf der Straße.
„Ich muss mit dir reden“, antwortete Kassandra ruhig und Sydney rollte genervt mit den Augen. „Jetzt? Auf einmal?“, spottete sie und ignorierte geflissentlich Damian, der nach ihrem Arm greifen wollte. „Warum?“, fragte sie schließlich. „Worum geht es?“
„Dein Schicksal“, entgegnete Kassandra und Sydney lachte laut auf. „Schicksal?“, rief sie. „Meinst du nicht, du trägst jetzt ein bisschen dick auf?“
Unsicherheit und Zweifel schwangen in Kassandras Stimme mit, als sie es zu erklären versuchte. „Ich weiß, ich bin dir keine gute Mutter gewesen.“ Ein Schnaufen, halb verächtlich, halb gekränkt, entrang sich Sydney und ihre Mutter warf ihr einen kurzen Blick zu, ehe sie fortfuhr: „Dein Schicksal ist sehr wichtig für die Bakram und Na’kaan.“
„Wie wäre es, wenn du mir etwas Neues erzählst“, fuhr Sydney ihr dazwischen. „Zum Beispiel warum du ausgerechnet jetzt hier bist? Woher wusstest du, dass du mir hier begegnen würdest?“
Kassandra hob die Hand und bat um Geduld. „Du bist anders, du bist nicht wie die anderen, Sydney.“
„Es kann eben nicht jeder durch so ein Scheißportal gehen!“
Seufzend strich Kassandra sich über das gewellte Haar – eine Geste, die Sydney gut von sich selbst kannte. „Das ist es nicht.“ Der Blick ihrer Mutter wurde flehend. „Mir wäre es lieber, wir könnten das an einem weniger… öffentlichen Ort besprechen.“
„Wo denn bitte?“, raunzte Sydney unwillig. „Willst du etwa jetzt, nach all den Jahren, Papa unter die Augen treten?“
„Genau das habe ich vor.“
„Bist du vollkommen verrückt geworden?“ Was dachte ihre Mutter sich bloß? Sydney verstand nicht, wie jemand derart unverfroren aufkreuzen und tun konnte, als sei alles gar nicht so schlimm. „Du hast uns verlassen!“
Kassandra sah ihre Tochter ernst an. „Ich bin deinem Vater ebenso eine Erklärung schuldig, Sydney.“
Damian räusperte sich. „Vielleicht hat sie recht, mein Herz.“
„Schlägst du dich etwa auf ihre Seite?“, erboste Sydney sich und blitzte ihn wütend an. Waren jetzt alle verrückt geworden?
Damian ließ sich nicht beirren. Stattdessen sagte er: „Vielleicht wäre es ganz gut, wenn sich deine Eltern aussprechen könnten. Ich kenne die Hintergründe nicht, aber wenn deine Mutter etwas Wichtiges mitzuteilen hat, dann sollte sie das in einem geschützteren Rahmen tun.“
Sydney trat zurück, vergrößerte den Abstand nicht nur zu ihrer Mutter, sondern auch zu Damian. „Ihr müsst beide wahnsinnig geworden sein! Papa ist endlich darüber hinweg, dass du weg bist. Und jetzt willst du einfach so“, sie schnippte mit den Fingern, „wieder in sein Leben treten? Das kannst du nicht machen!“ Sie wandte sich Damian zu. „Wie kannst du das unterstützen? Du bist mein Mann, das hast du oft genug betont, du solltest zu mir stehen! Du hast recht, du kennst die Hintergründe nicht, Damian.“ Ihre Stimme drohte mit einem Mal zu brechen. „Du weißt ja nicht, was diese Frau – meine Mutter! – getan hat!“
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