„Das Ritual, das ich angewendet habe, dient dazu, die verschiedenen Kräfte zu bestimmen, die einen Gegenstand mit arkaner Energie erfüllt haben.“, begann sie in schulmeisterlichem Tonfall.
„Es vermag außerdem den Ort der Schöpfung aufzuspüren, sofern er nicht zu weit entfernt oder zu gut verborgen ist.“
„Aber woher kam dann der Arm, der nach dem Bogen gegriffen hat?“, wolle ich neugierig wissen.
Jiang sah mich mit schräg geneigtem Kopf an, ehe sie antwortete: „Natürlich von einem anderen Arkanisten. Dummkopf. Jemand anderer hat ebenfalls nach dem Bogen gesucht. Durch mein Ritual war es ihm möglich, eine Verbindung zu der Waffe herzustellen.“
„Soll das heißen, jemand weiß jetzt, wo der Bogen steckt?“, wollte Anaya alarmiert wissen.
„Das halte ich für unmöglich.“, erwiderte Jiang: „Er hat nur bemerkt, dass jemand versucht, etwas über den Bogen herauszufinden und darauf reagiert. Hätte er mehr Zeit gehabt, wären wir jetzt allerdings in Schwierigkeiten. Zwischen der Waffe und dem Träger besteht eine arkane Verbindung. Sie gehören zusammen und können nicht lange getrennt bleiben. Deshalb hat der Nekromant reagiert, als ich das Ritual durchgeführt habe. Er wollte die Waffe zurück, damit wir ihn darüber nicht finden können.“
„Aber warum der Arm eines Skeletts?“, fragt ich sie.
„Mehr als das hier ist nicht von ihm übriggeblieben.“ Dabei deutete ich auf den Tiegel, in dem sich die Reste des Schützen befanden.
„Ich nehme an, der Schütze ist untot. Ist das nicht offensichtlich? Du sagst selbst, das Wesen, das Du verfolgt hast, hat keine Geräusche gemacht und keine Laute von sich gegeben. Es hat nicht gelacht, geschrieen oder geflucht. Und es hat Sprünge und Stürze aus großen Höhen ohne Verletzungen überlebt. Das kann kein normaler Mensch gewesen sein. Da der Arm einem Skelett gehört und der Bogen aus Knochen ist, nehme ich an, das es sich um einen Untoten handelt.“
„Aber Untote schreien doch nicht.“
„Nein, dass war der Nekromant. Als ich die Verbindung unterbrochen habe, muss er kurz gefühlt haben, wie sein Geschöpf einen zweiten Tot gestorben ist.“
„Ich hoffe es hat wehgetan.“
„Dem Schrei nach zu urteilen, bin ich mir da sicher.“
Kmarrs Einwand klang vernünftig.
„Jedenfalls hat ihn jeder im Gasthof gehört.
„Dann gehören sie sicher zur Armee von Morak.“, sagte Anaya mit deutlicher Abscheu in der Stimme: „Es ist gut, dass Du einen erledigt hast Drakk. Und wenn Du wieder einen siehst, halte Dich bitte nicht zurück.“
„Eben hast Du noch gesagt, ich solle das nächste Mal den Ärger vermeiden.“
„Da wusste ich auch noch nicht, dass es Untote sind.“, entgegnete sie.
Wir alle wussten, dass sie eine Abneigung gegen alles hatte, dass gegen die Natur war.
„Ich stimme Anaya zu.“, ließ Kmarr verlauten, der inzwischen am Tisch Platz genommen hatte. Er war gerade dabei mit einem Messer eine Lammkeule zu zerteilen.
„Wie meinst Du das?“, fragte Jiang.
„Die Menschen in der Stadt brauchten einen Erfolg. Den hat Drakk ihnen gegeben. Ihr wart nicht dabei.
Die Geschichte, wie er den Jäger besiegt hat, wird überall erzählt. Jeder will dabei gewesen sein und sie feiern und freuen sich, dass es endlich jemand mit den unheimlichen Schützen aufgenommen hat. Noch dazu hat er tatsächlich einen erwischt. Und dann kamen auch die Arkanisten der Stadt endlich und haben in den Kampf eingegriffen.
Das habe ich euch noch gar nicht erzählt, denn die Zauber, die sie eingesetzt haben, haben mindestens drei weitere Jäger beseitigt. Aber für die Leute ist der Erfolg, den Drakk erzielt hat fast noch wichtiger. Denn er sieht fast aus, wie einer aus dem Volk.
Ein Söldner zwar, aber eben ein Mann des Schwerts. Er hat drei Soldaten das Leben gerettet und dann der Stadt – wenn auch unabsichtlich – gezeigt, dass man die Knochenjäger auch besiegen kann, wenn man nicht in einer Robe herumläuft und arkane Formeln rezitiert.“
Nach dieser überraschenden Enthüllung saß ich eine Weile grübelnd am Tisch und stocherte im Essen herum, während Kmarr, Anaya und Jiang darüber redeten, ob es nun gut oder schlecht für uns war, dass ich den Jäger erlegt hatte.
Ich fühlte mich in der Rolle des Helden völlig fehlbesetzt. Unwillkürlich fragte ich mich, ob sie mich auch dann noch feiern würden, wenn sie wüssten, dass ich den Erfolg meinem dämonischen Erbe verdankte. Vermutlich würden sie mich gleich neben dem Schöpfer der Knochenjäger aufknüpfen.
Mit einem Ohr lauschte ich wie Anaya berichtete, was der Geistheiler verlangte, um die Magana zu heilen. Kmarr war ebenso entrüstet wie ich. Auch er hielt tausend Goldstücke für einen unverschämten Preis, kam aber zum gleichen Ergebnis wie wir, nämlich dass wir den Preis wohl oder übel bezahlen mussten.
Um das Thema zu wechseln, wandte ich mich an den großen Leoniden, der während der Unterhaltung die Lammkeule verspeist hatte und sich nun Brot und Käse gewidmet.
„Sag mal, hast Du Erfolg bei den Schmieden gehabt?“, fragte ich ihn.
„Teilweise“, antwortete er: „Die meisten waren dazu entweder nicht bereit oder nicht in der Lage. Oder sie hatten zu viel zu tun, als dass sie dafür Zeit aufbringen wollten. Der Meister Dolban, den Du mir empfohlen hast, war dagegen eine Goldgrube. Er hat sich ein paar der Teile angesehen und mir erklärt, dass es kein Problem wäre, sie zu fertigen. Allerdings war er sehr neugierig, was ich daraus herstellen wollte. Ich denke, wenn ich ihm zu viel zeige, wird er den Bolzenwerfer kopieren können. Und ich habe Droin das Versprechen gegeben, Klan Fenloth die Fertigung zu erlauben.“
„Und das solltest Du auch halten.“
Anaya hatte einen Apfel in schmale Spalten geschnitten und verzehrte genüsslich ein Stück nach dem anderen. Die Kerne hatte sie beiläufig aus dem Gehäuse gelöst und schob sie in eine kleine Schachtel.
Sie hob immer die Samen und Kerne der Früchte, die sie aß auf, um sie der Natur zurückzugeben.
„Natürlich werde ich mein Wort halten. Aber es ist schade, dass ich einen so begabten Schmied nicht damit beauftragen kann, alle Teile der Waffe anzufertigen. Ich muss wohl im Rest der Stadt nach anderen Schmieden suchen, in der Hoffnung einen zu finden, der die übrigen Teile herstellen kann.“, seufzte Kmarr grummelnd.
Bei ihm klang das wie das Grollen eines hungrigen Bären.
„Und Du solltest ein paar Tage hierbleiben.“, bemerkte Jiang an mich gewandt: „Es muss ja nicht jeder wissen, wo der 'Held' der Stadt wohnt.“
Sie betonte das Wort „Held“ derart spöttisch, dass ich genau wusste, was sie davon hielt.“
Anaya zog eine Augenbraue hoch und grinste: „Ja, bleib Du mal lieber hier. Jedes Mal, wenn Du irgendwohin gehst, gibt es anschließend Ärger. Und ich würde wirklich gerne ein paar Tage hier verbringen und die Annehmlichkeiten genießen, die die Herberge uns bietet. Es gibt hier nämlich ein Dampfbad und eine wirklich talentierte Masseurin.“
„Oh, davon wusste ich ja gar nichts.“, rief Jiang in ganz untypischer Weise aus.
Jetzt war es an mir, die Augen zu verdrehen. Waschen und Kleidung. Obwohl ich wusste, dass Reinlichkeit, Ordnung und edle Kleidung Bestandteil ihrer arkanen Fähigkeiten waren, fand ich ihre Neigung dies immer und überall zu betonen ziemlich übertrieben.
„Ich werde mich gleich mit Majora Enid darüber unterhalten. Entschuldigt mich bitte.“
Sie stand auf, verbeugte sich kurz und war so schnell durch die Tür verschwunden, dass keiner von uns auch nur noch ein Wort herausbrachte.
Einen Moment sagte niemand etwas, dann räusperte sich Kmarr: „Es war ein langer Tag. Ich schlage vor, wir beenden unsere Mahlzeit und verstecken den Bogen bei Shadarr. Dort wird niemand Spaß daran haben, wenn er versuchen sollte, ihn zu stehlen. Und er kann Dich warnen, sollte es dennoch jemand versuchen.“
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