Zunächst geschah eine ziemliche Weile lang gar nichts und ich wollte schon aufstehen und zu Jiang hinübergehen, um nachzusehen ob sie nicht einfach nur eingeschlafen war.
Doch dann stieg plötzlich ein grünliches Leuchten von den Symbolen auf. Nacheinander begannen sie zu glühen, bis schließlich der gesamte Kreis leuchtete. Jiang begann mit geschlossenen Augen etwas in leuchtender Schrift vor sich in die Luft zu malen. Daraufhin veränderte sich der Ritualkreis um den Bogen und das Leuchten wechselte von Grün nach Gelb und wieder zurück zu Grün. Irgendwas hatte sich verändert. Die Luft über dem Kreis begann auf einmal zu flimmern, wie an einem heißen Sommertag. Und tatsächlich wurde es wärmer im Raum. Der Kerzenrest, den Jiang vorhin auf eines der Symbole gestellt hatte, begann zu schmelzen.
„Das gefällt mir nicht.“, flüsterte mir Anaya ins Ohr.
„Mir auch nicht.“, erwiderte ich ebenso leise.
Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, explodierte der kleine Stein in dem Ritualkreis, dann fing der Holzsplitter Feuer und das Stück Kordel verrottete in wenigen Herzschlägen. Das Metallplättchen rostete, ehe es zu feinem Staub zerfiel.
Ich hatte mich erhoben und eines meiner Messer gezogen. Doch noch ehe ich einen Schritt vorwärts machen konnte, löste sich der Knochensplitter plötzlich auf. An der Stelle, an der er soeben noch gelegen hatte, war jetzt ein schwarzes Loch entstanden. Ein bleiches Leuchten bildete sich daran, das langsam die Umrisse eines Körpers annahm. Es kam immer näher und wurde auch immer größer. Es schien mir wie ein Tunnel, aus dem langsam jemand ins Licht trat.
Zuerst war es weit entfernt, doch mit jedem Herzschlag wurde es größer und klarer, bis zu meinem Entsetzen erst die Hand und dann der Arm eines Skelettes aus dem Loch krochen. Die Hand tastete blind auf dem Boden umher, bis sich auch der bleiche Schädel und ein Teil der Schulter durch das Loch schoben. Die Finger schlossen sich um den Bogen.
Ich wollte mich darauf stürzen, aber Anaya hielt mich zurück. Sie deutete auf Jiang, die mit dem Pinsel einen Strich durch ihre Symbole zog und gleichzeitig mit der anderen Hand das Muster um den Kreis herum verwischte.
Ein grauenhafter Schmerzensschrei ertönte, dessen Quelle wir nicht ausmachen konnten, aber es schien mir so, als käme er direkt aus dem Ritualkreis.
Als hätte Jiang eine Kerze ausgepustet, erlosch schlagartig das grüne Leuchten. Der Skelettarm zuckte ein paar Mal und dann fielen die Knochen einfach reglos zu Boden.
Es dauerte ein paar Augenblicke, ehe wir uns von der Überraschung erholt hatten.
Anaya fand als erste ihre Sprache wieder: „Was war das denn? Und wer hat da so geschrieen?“
„Du hast es also auch gehört. Ich dachte erst, meine Sinne würden mir einen Streich spielen.“, gab ich zurück.
„Natürlich hab‘ ich das gehört. Ich bin ja nicht taub.“, antwortete sie.
„Aber nicht nur ihr.“, sagte Jiang: „Lauscht mal.“
Erst hörte ich nichts, doch dann erklangen donnernde Schritte aus dem Treppenhaus, die schnell näher kamen. Verflucht, das hatte gerade noch gefehlt.
Anaya löste sich als Erste aus der Erstarrung. In schneller Folge erteilte sie Anweisungen: „Beeilt euch. Ich rolle den Teppich wieder aus. Drakk, geh vor die Tür. Jiang, den Bogen.“
Noch während sie sprach, sprang ich zur Tür, riss sie auf und trat hindurch. Mehrere Bedienstete und Wachen der Herberge gefolgt von einem besorgten Kmarr hasteten die Treppe hinauf.
„Was ist passiert?“, wollte der erste Wächter besorgt wissen.
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß, was ihr meint?“, antwortete ich mit ruhiger Stimme.
„Wir haben einen lauten Schrei gehört.“, entgegnete ein zweiter Wächter.
„Ach so. Den haben wir auch gehört. Deshalb bin ich ja rausgekommen. Um nachzusehen woher der kam.“
Inzwischen umringten mich sechs Leute und Kmarr.
„Dann ist Euch nichts passiert? Auch nicht den beiden Frauen aus Eurer Begleitung? Wer hat denn dann geschrieen?“, wollte der erste Wächter wissen.
„Das kann ich Euch auch nicht sagen. Wir jedenfalls nicht.“, versicherte ich erneut.
„Majora Enid wünscht, dass wir solchen Vorfällen selbst auf den Grund gehen. Wenn Ihr uns erlauben würdet, kurz sicher zu stellen, dass wirklich niemandem etwas geschehen ist, wären wir Euch sehr dankbar.“, erwiderte er mit etwas nachdrücklicherer Stimme.
„Das kann ich durchaus verstehen, aber wir wären lieber ungestört.“, gab ich zurück.
„Wirklich, ich fürchte, wir müssen das auf jeden Fall selbst sehen.“, entgegnete er energischer.
„Nun gut, falls Euch meine Versicherungen nicht überzeugen, dann kommt mit hinein.“
In meinem Inneren betete ich dafür, dass Jiang und Anaya inzwischen den Raum aufgeräumt und die Spuren beseitigt hatten.
Betont langsam trat ich zur Seite und öffnete die Tür. Über die Köpfe der eintretenden Wachen konnte ich Anaya und Jiang sehen, die verwundert vom Essen aufsahen. Den Bogen und die Knochen konnte ich nirgendwo entdecken.
„Ja bitte?“, fragte Anaya freundlich.
„Verzeiht bitte die Störung. Wir haben einen Schrei gehört und wollten uns vergewissern, dass niemandem etwas geschehen ist.“, erklärte der Wachmann in sehr höflichem Tonfall.
„Dann habt ihr ja jetzt gesehen, dass es uns gut geht.“, bemerkte Jiang wie üblich leicht genervt. Sie machte mit ihren lackierten Essstäbchen die sie in der rechten Hand hielt eine scheuchende Geste.
„Habt Dank und lasst uns allein.“, kommentierte sie anschließend, als sie den Mund wieder leer gegessen hatte: „Ihr habt eure Aufgabe erfüllt.“
Der Wachmann nickte: „Mit euch ist alles in Ordnung, genauso wie mit eurem Begleiter. Also werden wir uns wieder zurückziehen. Entschuldigt nochmals die Störung und genießt das Abendessen.“
Die Männer und Frauen der Wachmannschaft der Herberge verneigten sich und verschwanden nach einem letzten Blick auf das Zimmer.
Kmarr, der während der Unterhaltung auf dem Gang gewartet hatte, duckte sich unter der Tür hindurch nach drinnen.
„Scheint so, als hätte ich etwas verpasst. Erklärt ihr mir, was hier los war, meine Freunde?“
Ich berichtete von meiner Auseinandersetzung mit dem Bogenschützen und der erfolgreichen Jagd, bei der ich den Bogen erbeutet hatte.
„Davon habe ich schon gehört. Scheint so, als hätte Dein Auftreten für einiges Aufsehen gesorgt. Die Leute halten Dich für eine Art Schutzengel, der den Bürgern zu Hilfe gekommen ist.“, erwiderte Kmarr ernsthaft.
„Mist.“
Das war nicht meine Absicht gewesen. Ich hatte einfach nur reagiert, nachdem der Knochenjäger versucht hatte, mich zu töten.
Ein Umstand, auf den ich äußerst ungehalten reagierte.
„Also wenn wir unauffällig bleiben wollen, solltest Du vielleicht das nächste Mal vorher darüber nachdenken.“, bemerkte Jiang spitz.
„Wie üblich. Unser Drakk hat sich mal wieder Streit gesucht. Wenn es irgendjemanden gibt, der das perfekt beherrscht, dann Du.“, fügte Anaya hinzu, wobei sie betont mit den Augen rollte.
„Ja, ja. Schon gut. Ich hab’s verstanden. Das nächste Mal werde ich den Schützen einfach bitten, auf jemand anderen zu schießen.“, antwortete ich verärgert.
Ich fand die Anschuldigungen nicht witzig, denn ich hatte wirklich nichts gemacht, als zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Auch wenn das häufiger vorkam, war es nie meine Schuld. Ich hatte einfach nur mehr Pech als andere.
„Beruhigt euch mal wieder. Das ist doch alles schon geschehen und lässt sich nicht mehr ändern.“, unterbrach Kmarr uns mit seiner tiefen Stimme: „und erzählt mir lieber mal den Rest der Geschichte.“
Jiang übernahm diesen Part der Ereignisse, bis sie schließlich zu dem Ritual kam, dass ich zwar gesehen hatte, dessen Ergebnis ich aber noch nicht kannte.
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