Aus der geplanten halben Stunde war mittlerweile über eine Stunde geworden. Müller bot uns an, uns jederzeit zur Verfügung zu stehen, wenn wir Fragen hätten. Dieses Angebot nahmen wir gerne an. Und mir ging es von Minute zu Minute besser, als wir bei Müller waren.
Wir fuhren zurück ins „Saraj“. Der Besuch bei Emina war angesagt. Hugo begleitete mich, was mich sehr freute. Wir zogen den schweren Koffer die total vereiste Nevestina hoch. Emina war erkältet, freute sich aber sehr, dass wir kamen. Anfänglich waren alle etwas scheu, aber das legte sich bald. Mirsad holte einen Schnaps hervor und schon wurde angestossen. Eine fröhliche Runde entstand. Emina tischte dieses herrliche Trockenfleisch auf, das man hier in Bosnien kriegte. Dazu selbst eingemachtes Gemüse. Schmeckte wie immer prima bei Emina! Hugo wollte noch ins Büro, schauen, ob er Pendenzen hatte. Wir vereinbarten, uns im Restaurant des „Saraj“ später zu treffen. Bevor Hugo ging, versprach er Adisa wiederzukommen, er hätte vielleicht eine Möglichkeit für sie zu ihrem langersehnten Hund zu kommen.
Hugo hatte mir erzählt, dass er und eine Mitarbeiterin des DEZA auf der Strasse einen kleinen, halbverhungerten Hund gefunden hätten und es nicht übers Herz brachten, ihn einfach liegenzulassen. Sie hätten ihn kurzerhand ins Büro mitgenommen. Dort wurde er aufgepäppelt und lebte jetzt bei der Mitarbeiterin. Sie hätten ihn Erich Huber getauft. Warum, das wusste Hugo auch nicht, er würde einfach so aussehen.
Nachdem sich Hugo verabschiedet hatte, bat ich Emina, doch von ihrem Telefon aus nach Hause anrufen zu dürfen, denn vom Hotel aus klappte das immer noch nicht. Göttergatte war mürrisch und die Unterhaltung war alles andere als erfreulich. Ich hätte dann auch noch einen Sohn zu Hause ... Er wusste, dass dies mein Schwachpunkt war, der einfachste Weg, mir erfolgreich ein schlechtes Gewissen zu machen. Und humanitär könne ich auch zu Hause sein ... Die Worte trafen mitten ins Ziel! Emina merkte, was los war, und bekam nun ihrerseits ein schlechtes Gewissen. Ich müsse zuerst zu meiner Familie schauen, bevor sie, die Serlans drankämen. Sie meinte es gut, aber ich konnte ihr nicht erklären, dass ich von einer Partnerschaft etwas anderes erwartete, als dies vielleicht in ihrer Kultur, wo der Mann als Oberhaupt der Familie agierte, der Fall war. Die gelöste Stimmung war auf jeden Fall dahin und ich war müde. Ich ging zurück ins Hotel, Adisa begleitete mich bis vor die Hotelpforte.
Hugo sass schon da, sah mir anscheinend schon von Weitem an, dass zu Hause miese Stimmung war. Wir redeten wieder lange miteinander.
Der nächste Tag ging blutdruckmässig wesentlich besser, aber Frühstücken konnte ich immer noch nicht. Beim Anblick von Hugos riesigem Appetit – was der alles zum Frühstück verzehren konnte, das war bei mir ein Nachtessen! – würgte es mich im Hals.
Um 9 Uhr war das Treffen mit einem Vertreter der Wirtschaftskammer BiH, einem Herrn Ibrahim Ibrahimkadic, angesagt. Englisch! Er machte auf uns den Eindruck, als dachte er, wir müssten ihm auf Knien danken, dass er uns überhaupt empfing. So deutlich von oben herab. Und mein Englisch versagte! Hugo war perfekt in Sprachen, zeigte dies auch gerne, weil er die nicht ausbleibende Bewunderung mochte. Also redete Hugo wieder. Die gleiche Geschichte noch einmal, warum ich hier war, meine Motivation, alles wie gehabt. Was gab es in Bosnien für Möglichkeiten, was brauchte dieses Land, das waren unsere Fragen. Ja, sie würden unbedingt eine Tiefkühlfabrik brauchen. Ha, das hörte ich nun wirklich zum ersten Mal. Hugo klärte mich hinterher auf, dass Ibrahim früher Direktor einer solchen Fabrik war. Aha. Ja, und Möglichkeiten hätte es viele. Ich könne eine Firma eröffnen, alleine oder zusammen mit irgend jemandem. Seine Hand bewegte sich während diesen Aussagen von ihm zu mir, hin und her. Die Bewegung stoppte am Satzende mit der Handfläche nach oben, auf meiner Seite hin. Unmissverständlich! Hugo trat mich ans Schienbein und flüsterte mir zu, diese Story so schnell wie möglich zu beenden, bringe nichts. Wenige Minuten später standen wir draussen. Fazit: Den Staat konnte man vergessen, die hatten keine Ahnung, was Marktwirtschaft überhaupt war.
Wir hatten Zeit und fuhren ein wenig herum, um das kalte Auto aufzuwärmen. Schlussendlich landeten wir in Vogosca, im selben Kaffee wie am Tag zuvor, nur waren wir diesmal von der anderen Seite angereist.
Wir mussten immer wieder lachen und schüttelten den Kopf, wenn wir auf die fordernde Handbewegung des Tiefkühlherrn zu sprechen kamen.
Um 11 Uhr hatten wir einen Termin beim Herrn der schweizerischen Gerüstebaufirma hier in Sarajevo. Die Firma war ein grosses, aufgeblasenes Zelt. Die Beschreibung des Firmendomizils passte übrigens auch auf das Auftreten des Herrn, gross und aufgeblasen ... Im Zelt befanden sich Auslagen von allen möglichen Bohrmaschinen-Modellen. Der Herr kam eine Viertelstunde zu spät, in meinen Augen der erste Minuspunkt. Ein anderer Herr, ein Ostschweizer, sass auch am Tisch. Zuerst glaubten wir, er sei ein Mitarbeiter der Firma. „Nein, nein, das ist der Herr Hacker!“, seines Zeichens Unternehmer in der Catering Branche. Er, der Herr Gerüstebauchef, hätte ihn geholt, weil sie grosse Events geplant hätten und da zusammenarbeiten konnten. Die Firma erstellte Gerüste und Bühnen für Grossanlässe. Der Herr Gerüstebauchef referierte und bluffte vor sich hin, es war schon fast peinlich. Hugo und ich durften uns nicht anschauen, wir hätten gleich losgeprustet, so lachhaft entwickelten sich des Herrn „Visionen“. Hacker sagte nicht viel, erst später, als ich ihn auf dem Flughafen wiedersah, meinte er treffend: „Ein bisschen ein Schnörri, der Gerüstebauchef.“
Danach blieb noch genügend Zeit bis zu meinem Abflug und wir fuhren zum zerbombten Zeitungsgebäude der „Osobojenia“. Lag immer noch gleich da, der Trümmerhaufen. Schade, dass der Westen hier nicht mehr zum Wiederaufbau beitrug, es war die einzige unabhängige Zeitung, nur konnten anscheinend die Löhne nicht mehr bezahlt werden ... Wir fuhren hinter das Gebäude. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite hingen gelbe Plastikstreifen, wie wir sie, in Rot-weiss als Absperrung für Baustellen kannten. Nur stand hier „Mine“ drauf. Hugo erklärte, das sei eine Frontlinie gewesen, alles noch vermint. Mein Blick glitt wenige Meter weiter über die Absperrung hinweg. Zerbombte Einfamilienhäuser, ein paar Mehrfamilienhäuser, alle in der verminten Zone. Beim näheren Hinsehen stellte ich fest, dass dort bereits wieder Leute wohnten. Hugo sagte darauf nur, dass diese Leute hier zwei Möglichkeiten hätten. Entweder erfroren sie oder sie hatten vielleicht Glück und wurden nicht von einer Mine getötet. Jeden Monat würden einige Leute durch diese Detonationen sterben. Und dann, ein Anblick, der mich entsetzte: Auf Plastiksäcken rutschten Kinder fröhlich einen mit wenig Schnee bedeckten Hang hinunter. In der Minenzone!
Wir fuhren weiter nach Ilidza, fanden eine Pizzeria, wo wir uns eine Pizza teilten. Der Kellner bemerkte das und brachte sofort freundlich ein zweites Besteck. Probiere das mal einer in der Schweiz.
Es wurde Zeit, Hugo brachte mich zum Flughafen. Nicht mehr lange und auch er würde in die Schweiz zurückkehren. Heim zu seinen zwei Töchtern, die er viel zu selten sah. Verabschiedung auf dem Flughafen. Plötzlich rauschte vor mir eine 20-köpfige Delegation von „gekrawatteten“ Männern und „geblazerten“ Frauen an der Zollkontrolle vorbei, eskortiert von der Flughafenpolizei. Wenig später war ich mit „Westendorp und seinem Schlepptau“ schon im Flugzeug. Ich allerdings, im Gegensatz zu ihnen, in der Economy-Class. In der Luft verschlief ich zwischen einem französischen SFOR-Soldaten und einem „Einheimischen“ das Essen. Hatte es auch noch nie geben, dass ich den Kaffee verpasste...
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