Christine und ich setzten uns zusammen und suchten ein Datum: 16.10. – 19.10.98. Ich buchte die Flüge. Meine Bekannte, die Reisefachfrau, fragte mich belustigt: „Was, du fliegst? Ich dachte, du hättest solche Angst?“ Hatte ich auch, aber ich hatte Emina fest versprochen, dass ich kommen würde.
Dann hörten wir in den Nachrichten, dass Milosevic im Kosovo mit den Albanern Krieg anzettelte. Unsere Umgebung reagierte dementsprechend und nannte uns weiss der Kuckuck was, weil wir ins „Kriegsgebiet“ reisen wollten. Aber nicht doch: Der Kosovo war anderswo, das war nicht Bosnien. Ich war ein schöner Angeber. Vor einem Jahr hatte ich selbst nicht gewusst, wo die verschiedenen Landesgrenzen des ehemaligen Jugoslawiens begannen und wo sie aufhörten.
Ich rief eine Bundesstelle in Bern an und fragte nach den Gefahren bei einer Reise nach Sarajevo. Die konnten mir jedoch nicht viel sagen und empfahlen mir, mich auf der Schweizer Botschaft in Sarajevo zu erkundigen. Dies tat ich dann auch und eine Frau mit einem sympathischen Berner Dialekt versicherte mir, dass ich überhaupt keine Bedenken zu haben brauche. Sie würde sich hier in Sarajevo auf jeden Fall sicherer fühlen als in Zürich. Ich sagte ihr, dass ich auch Geschäftsfrau sei, im KMU-Bereich. Ob es in Bosnien für Kleinbetriebe wie unsere Firma Möglichkeiten geben würde, Arbeitsplätze zu schaffen? Sie stellte mich zum Herrn Botschafter durch. Ein Fribourger, freundlich und sehr hilfsbereit. Wann ich denn komme? Ich sagte es ihm. „Dann machen wir doch gleich ein paar Termine ab. Montag, das reicht noch gut vor ihrem Heimflug.“ Er erzählte mir von Projekten, die das DEZA dort unten machte. „Was ist das DEZA?“ „Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit.“ Ich seufzte, die Abkürzungen dieser ganzen Behörden waren mir ein Buch mit sieben Siegeln. Aber der Botschafter lachte nur, sagte, dass das normal sei und sie das manchmal vergassen im Gespräch mit „Ausserbeamten“. Tage später rief eine Dame an. Sagte, dass sie beauftragt worden war, etwas zusammenzustellen. Ich würde es per Fax bekommen. Ich solle ihr mitteilen, ob das so in Ordnung sei. Das Fax kam umgehend. Ich war mir bei den Verwaltungen ein so speditives Tempo nicht gewohnt. Ausser sie wollten etwas von dir. Auf dem Fax stand, dass wir uns am Montag, dem 19. Oktober 1998, um 8 Uhr bei einem Herrn Hugo melden sollten. Die Adresse lag bei.
Christine und ich fuhren am 16. Oktober auf den Flughafen Zürich. Wir wussten, dass wir beide in unseren Koffern mehr als die erlaubten 20 kg mitführten. Wir mussten uns geradezu wehren gegen die ganze Dorfbevölkerung, dass sie uns nicht ihr ganzes Hab und Gut mitgeben wollten. Am Schluss hatten wir jeweils am Telefon nur noch gesagt, gebt uns Geld mit, das können sie bestimmt gebrauchen. Es kam Geld, eine ganze Menge sogar, von Leuten, denen ich das nie zugetraut hätte, von solchen, die selbst nicht viel hatten.
Beim Check-in steuerte ich auf einen Schalter zu, der mit einem Mann besetzt war, setzte mein schönstes Lächeln auf, das ich besass, und stellte den Koffer auf die Waage. 24 kg! Bei Christine ebenso. „Wohin fliegen sie, aha, nach Sarajevo?“ „Ja. Hören Sie, das ist alles nicht für uns. Wir wissen, dass es zu schwer ist.“ Wir zeigten auf unser Handgepäck, das wirklich nur das Nötigste für uns beinhaltete und erklärten ihm kurz unseren Reisegrund. Der Herr schaute uns an und sagte: „Also, alles zusammen 60 kg, aber nicht mehr! Ich drücke beide Augen zu.“ Er bekam von uns beiden den nettesten und dankbarsten Blick geschenkt, den er wahrscheinlich je bekommen hatte. Wir gaben zusätzlich eines unserer Handgepäcke auf und entschlossen uns, einen Rucksack zu kaufen und den mit Käse, Cervelats, Spaghetti und Schokolade zu füllen. Als Handgepäck! Gesagt, getan. Der Rucksack hing schwer von unseren Schultern, wurde aber akzeptiert.
Wir sassen im Flieger. Mein Herz klopfte wie wild. Wir starteten. Christine redete unaufhörlich auf mich ein, erzählte mir irgendetwas, nur damit ich meine Flugangst vergass. Kaum bekamen wir etwas zu trinken, bestellte Christine zwei Gläser Champagner. Wenn schon, denn schon. Keine Wolke war am Himmel, fast den ganzen Flug lang. Im Anflug auf Sarajevo erkannten wir einen grossen Friedhof auf einem ehemaligen Fussballfeld, dann unzählige zerbombte Häuser, fast alle ohne Dach, einige davon nur noch Ruinen. Wir landeten und bekamen kurz darauf den Flughafen zu sehen. Die Hälfte des Gebäudes war beschädigt oder gar nicht mehr da. Wir durften aussteigen. Zu Fuss ging’s zum Terminal. Wir mussten vom Flugzeug bis zum Gebäude durch ein Spalier von Soldaten mit Maschinengewehren marschieren. Mit ernster Miene wurde uns klar gemacht, wo wir durchgehen durften. Jeder Meter Abweichung wurde sofort mit harten bosnischen Worten korrigiert. Im Terminal hingen Kabel von den Decken. Die Klimaschächte waren offen. Am Zoll wurde jeder Pass kontrolliert, das hiess: Namen in den PC eingegeben, nochmals eingetippt, bös angeschaut, Stempel in den Pass geschmettert und mit unbeweglicher Mine gerufen: „Nächster!“
Baggage-Claim: ein Loch, das mal ein Fenster gewesen war, ein schäbiges Rollband und von draussen wurden die Gepäckstücke sorgfältig aufs Transportband gelegt. Runter mit dem Zeug. Am Zoll: Durchleuchten des Handgepäcks, Pass nochmals vorweisen und dann durften wir endlich gehen.
Draussen in der improvisierten Ankunftshalle wartete eine riesige Menschenmenge auf die Ankommenden. Sofort eilte Mirsad herbei und half uns, die Koffer zu tragen. Emina war auch da und überglücklich, uns zu sehen. Schnell raus und ein Taxi suchen. Mirsad handelte mit dem Fahrer den Preis aus, der lud unsere Koffer in den Kofferraum, brachte ihn aber nicht zu. Mit einem Gummiseil ging’s schliesslich auch.
Wir verliessen das Flughafenareal und fuhren Richtung Nevestina 11, am andern Ende der Stadt. Es war beklemmend, schockierend für mich. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich, was ein Krieg anrichten konnte. Die schönsten Gebäude einfach zerbombt. Das Zeitungsgebäude, ein halber Trümmerhaufen und doch wurde dort schon wieder produziert, allerdings im Keller, wie ich später erfuhr. Das ehemals schmucke, olympische Dorf war auch kein schöner Anblick. Zwei Hochhäuser, eines komplett ohne Fenster, das andere teilweise ohne, aber bereits in den unteren Stockwerken wieder belegt. Schweigend fuhren wir bergauf durch die Stadt. Die letzten paar Meter drehten dem Taxi auf der Schotterstrasse die Räder durch. Steigung mindestens 20 %. Wir befürchteten schon, dass die Koffer aus dem Auto fallen würden, da hielt der Fahrer an. Wir waren da.
Der Ausblick war wunderschön. Serlans Häuschen erinnerte mich an ein Rustico im Tessin. Fehlten nur noch die Palmen ... Sie wohnten im Moment alleine hier. Nur die Stiefmutter lebte ebenfalls noch da, war zurzeit aber abwesend. Emina und Mirsad hatten das Haus für 20‘000.-- Deutschmark (DEM) von ihrem pensionierten Onkel gekauft, weil der ein zweites Haus in der Stadt hatte und das tägliche Hinaufsteigen zu anstrengend für ihn wurde.
Sie hatten das Haus sehr schön hergerichtet. Das Erdgeschoss bestand ursprünglich nur aus einem Zimmer und einer Küche, die man aber nur durchs Freie erreichen konnte. Dazwischen ging eine Treppe ins Obergeschoss, wo sich weitere zwei Zimmer plus ein Bad befanden. Mirsad hatte vor die Küche und das Zimmer einen weiteren Raum angebaut, der nun das Wohnzimmer war. Ebenso hatte er Platz für ein WC mit Dusche gefunden. Voller Stolz zeigte uns Mirsad, was er alles selbst gemacht hatte. Im Untergeschoss alles frisch gefliest mit weissen Kacheln. Er lachte und zeigte mir das Handwerkerbuch, das ich ihm geschickt hatte. Er hätte alles Wissen aus diesem Buch. Das Haus sah schön aus. Sehr gemütlich. Und wir packten nun unsere Koffer aus. Für Emina und ihre Familie war es beinahe wie Weihnachten.
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