Modrica, dort wohnte Emina mit ihrem Mann Mirsad. In einem schönen Haus, zwei Kinder. Adisa war damals, 1993, 8 Jahre alt und Jasmin noch keine 2. In der Schule hier nannte er sich Jasko, weil Jasmin in der Schweiz ein Mädchenname war. Emina erzählte, wie sie schon als 13-jähriges Mädchen für sich und ihre jüngere Schwester sorgen musste, weil ihr Vater in einem Anfall von Schizophrenie ihre Mutter mit einem Küchenmesser erstochen hatte. Er kam in eine „Klinik“. Sie war 16, Mirsad 18, als sie heirateten. Mirsad verlor seine Mutter ebenfalls früh und sein Vater heiratete eine andere Frau, die nur auf das Vermögen, sprich das Haus des Vaters aus war. Mirsads Anwesenheit störte die Stiefmutter. Er sollte so schnell wie möglich das Elternhaus verlassen. Dem jungverheirateten Paar gab niemand eine Chance, was ein grosser Irrtum war! Die beiden sind seit 16 Jahren glücklich verheiratet. Selbst Muslime (Sunnit, kein Kopftuch), wohnten sie in einem Quartier befreundet mit Serben zusammen, die wie wir Katholiken und Protestanten waren. Ihre Nachbarin, eine Serbin, war Eminas beste Freundin.
Eines Tages sei das jugoslawische Militär gekommen und hätte in jedes serbische Haus eine Kiste gebracht. Tags darauf sagte ihr der serbische Nachbar, dass es vielleicht besser sei, das Dorf für einige Tage zu verlassen, er würde nichts Gutes ahnen, es würden hier merkwürdige Dinge geschehen. Emina nahm eine Tasche mit Kleidern für zwei, drei Tage und ging mit den Kindern ins Nachbardorf zu einem Onkel. In der Nacht musste in ihrem Dorf dann etwas passiert sein, was genau, verstand ich nicht. Weder ich noch Christine trauten uns, Emina zu unterbrechen. Sie erzählte weiter, sagte, dass die Serben alle muslimischen Bewohner umgebracht hätten, dass ihr Nachbar sie anrief, sie könne nicht zurückkommen, sie solle noch ein paar Tage warten. Und dann, nach ein paar Tagen, bat er sie zu fliehen, sie könne nicht zurück.
Ihr Mann Mirsad arbeitete damals in einer Raffinerie als Hydrauliker ganz in der Nähe von Modrica. Auf dem Nachhauseweg erfuhr er von Freunden, dass seine Familie bei einem Onkel war. Kaum war er dort angekommen, flüchtete die ganze Familie in einem Lastwagen. Sie wollten nach Sarajevo, da der Fahrer, ein Cousin von Emina, Mehl in diese Stadt bringen musste. Aber ständig mussten sie umkehren und wieder einen neuen Weg suchen, da der gewählte Weg vom Militär versperrt war. Zwei Tage und zwei Nächte sassen sie im Lastwagen. Hatten Hunger, nicht viel zu essen. Adisa wollte nichts essen, da Jasmin an einer Lebensmittelallergie litt und Spezialnahrung brauchte. Sie wollte lieber hungern, als dass der kleine Bruder sterben würde.
Nahe der kroatischen Grenze kamen sie in ein Sportstadion, das zum Flüchtlingslager umfunktioniert worden war. Emina hatte vom langen unbeweglichen Sitzen blaue Flecken am Rücken. Als Familie mit Kindern unter zwei Jahren hatten sie das „Privileg“ einen Raum für sich zu bekommen. Rauszugehen war verboten oder man durfte nicht mehr zurückkehren. Eines Tages sagte Mirsad zu Emina: „Komm, lass uns weggehen, ich habe ein komisches Gefühl, als ob etwas passieren würde.“ Einen Tag später schlug eine Granate im Stadion ein und tötete 64 Menschen, sagte Emina. Sie gingen in Richtung kroatische Grenze. Dort wurden sie von den Kroaten zurückgeschickt. Es muss eine grosse Menschenmenge gewesen sein, dort, wo sie sich befanden. Emina hörte aus einem Lautsprecher (es war die Caritas Schweiz), dass Mütter mit Kindern, die in die Schweiz wollten, sich dort und dort zu melden hätten. Emina ging mit Adisa und Jasmin hin. Mirsad war in diesem Moment nicht bei der Familie. Ich hatte Emina nicht verstanden, was er gerade tat.
Sie könne dort mit den Kindern in den Bus einsteigen. Aber sie hätte keine Papiere bei sich. (Zum ersten Mal wurde mir klar, weshalb es möglich war, dass Flüchtlinge keine Papiere auf sich trugen). Und ihr Mann sei nicht da. Ja, sie müsse einsteigen, wenn sie mitwolle, der Bus fahre nächstens ab. Sie bat die Caritas, ihrem Mann auszurichten, dass sie in die Schweiz gefahren sei. Eine Minute vor Abfahrt gelang es Mirsad, Emina über ein Telefon zu erreichen. Emina konnte ihm gerade noch sagen, dass sie mit den Kindern in die Schweiz ging. Sie kam in ein luzernisches Dorf, zusammen mit anderen Flüchtlingsfamilien.
Mirsad versuchte nun auf eigene Faust über Kroatien, Ungarn und Österreich in die Schweiz zu gelangen. Die ganze Flucht sollte drei Monate dauern ... An der kroatischen Grenze dasselbe wie zuvor. Man liess ihn nicht durch, schickte ihn zurück. Einige Männer taten sich zusammen und überredeten auch andere, dass sie allesamt geschlossen an die kroatische Grenze marschieren sollten. Sie waren überzeugt, dass die Kroaten nicht schiessen würden, wenn einige hundert oder tausend Männer auf den Grenzposten zugehen würden. Es war so. Die Männer durften nach Kroatien, aber man machte ihnen überall deutlich, dass sie unerwünscht waren. Einmal wollte man die Männergruppe überreden, in einen Zug zu steigen, der sie an ihr gewünschtes Ziel bringen würde. Diejenigen, die einstiegen, wurden nach Bosnien zurückgebracht. Die anderen wussten nicht, was aus ihnen geworden war. Mirsad ging zu Fuss weiter an die ungarische Grenze, überquerte diese in der Nacht. Der Gefahr war er sich bewusst, aber es war ihm egal, ob er nun von den Kroaten oder von den Ungaren erschossen wurde.
Ob nun aus Ungarn oder Kroatien, wusste Emina nicht mehr, aber auf jeden Fall fand Mirsad eine Gelegenheit, Emina anzurufen, er hatte durch Verwandte herausgefunden, wo sie war. Mirsad sagte ihr: „Wir haben doch abgemacht, dass wir an unserem 10. Hochzeitstag ins Ausland gehen. Heute ist dieser Tag und wir sind beide im Ausland, einfach nicht zusammen.“ Emina lachte, als sie uns das erzählte.
Als Flüchtling bekam sie in der Schweiz pro Tag ein paar Franken Taschengeld. Sie hatte das alles gespart. Mirsad hatte kein Geld mehr. Emina schickte von ihr gespartes und von anderen Frauen geliehenes Geld an eine Tante in Wien. Diese sorgte dafür, dass Mirsad von Wien aus (wie er dorthin gekommen war, entzieht sich meiner Kenntnis) mit dem Zug in die Schweiz fahren konnte. Mirsad fuhr die ganze Nacht und kam in Buchs an. Dort war gerade ein kirchlicher Feiertag, die Büros der zuständigen Fremdenpolizei waren geschlossen. Die Polizei schickte ihn zurück. Mirsad konnte sich nicht verständigen, nicht sagen, dass seine Frau schon hier war. Er versuchte es am nächsten Tag erneut. Ein Albaner, der Bosnisch und Deutsch sprach, half ihm weiter. Mirsads Geld reichte gerade bis nach Zürich. Er hatte keine Ahnung, wo das luzernische Dorf war. Emina konnte ihm nur sagen, dass er nach Luzern fahren müsse. Einer Mazedonierin fiel Mirsad auf. Sie fragte ihn, was los sei. Mirsad sagte, dass er nach seiner Flucht aus Bosnien nach Luzern müsse, seine Frau warte dort auf ihn. Die Frau bezahlte Mirsad das Zugbillet nach Luzern. Die Caritas Luzern holte Mirsad vom Bahnhof ab und obwohl von Emina mehr schlecht als recht beschrieben, erkannten sie ihn schon von Weitem. Endlich das ersehnte Wiedersehen mit der ganzen Familie. Das hiess – Jasmin hatte Angst vor seinem Vater, er erkannte ihn nicht mehr ... Die dunkelbraune Lederjacke sei weiss gewesen, der vorher eher zu Übergewicht neigende Mirsad nun gertenschlank. Emina erzählte mir, wie sie um das Leben von Mirsad gebangt hatte, anderen Frauen sei es egal gewesen, was mit ihren Männern passiert war. In der Schweiz hatte Emina zum ersten Mal seit Monaten Gelegenheit, wieder in einen Spiegel zu gucken. Sie erschrak, denn sie hatte praktisch über Nacht graue Haare bekommen. Emina war erst 33 Jahre alt, sah aber 10 Jahre älter aus.
Diese Erzählungen dauerten vielleicht zwei oder drei Stunden. Christine und ich sagten nichts mehr. Emina klopfte auf ihre Oberschenkel, lachte, und meinte dann, dass sie nicht hier sei zum Kaffeetrinken, sondern zum Arbeiten.
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