»Aber ich erwarte, dass du mir hilfst! Ich will einen willigen Sklaven in meiner Küche haben.«
Das brauchte sie ihm nicht zweimal sagen. Kurz darauf stand er brav neben ihr und schälte mit Hingabe die Kartoffeln, während Hetty sich an die Soßenzubereitung machte. Sie hatte Bratenfond aus der Tiefkühltruhe geholt und peppte das Ganze mit frischem Gemüse auf. Dann wurden die Kartoffeln gerieben, angemacht, zu Knödeln geformt, ins siedende Wasser gelegt und sie durfte sich endlich wieder auf das Sofa begeben.
Simon hatte ihr leeres Glas wieder neu aufgefüllt und wollte beschäftigt werden. »Gucken wir Fotos an?«
Hetty sah in seufzend an. »Welche willst du denn anschauen?«
Der Kleine grübelte etwas und meinte dann. »Bruce hat mir erzählt, dass du Trauzeugin bei der Hochzeit seiner Eltern warst. Hast du damals Bilder gemacht?«
Bruce war sein bester Freund und der Sohn von George und Molly, die auf der Nachbarfarm in zehn Kilometer Entfernung lebten. Er war ein Jahr älter als Simon und trainierte mit ihm im Kinderkampftraining. Seine Schwester Lisbeth war genauso alt wie Simon und so waren glücklicherweise ganz in der Nähe zwei Spielgefährten. Als seine Mutter noch auf der Farm wohnte, hatte die dafür gesorgt, dass ihr Sohn jederzeit zu seinen Freunden konnte, wenn er wollte und nach ihrem Weggang von der Farm hatte Dolly diese Aufgabe übernommen. Die drei Kinder trafen sich mindestens jeden zweiten Tag und hielten zusammen wie Pech und Schwefel.
Hetty nickte. »Die DVD ist in der untersten Schublade der Kommode in meinem Schlafzimmer. Auf dem Cover steht „Mollys Hochzeit“.«
Simon rannte aus dem Zimmer und polterte die Treppe hinauf in den ersten Stock. Lesen konnte er schon einige Zeit, denn er hatte Dolly solange genervt und gefragt, bis die sich erbarmt und mit ihm die Buchstaben geübt hatte. Dass der Kleine mit einer außerordentlichen Intelligenz ausgestattet war, hatte sich gezeigt, als er schon ein paar Wochen danach Hetty aus einem Bilderbuch vorgelesen hatte. Wenn auch noch nicht ganz flüssig, aber erstaunlich sicher.
Jetzt kam er freudestrahlend mit der DVD in die Bibliothek und hielt sie Hetty unter die Nase. »Ist das die Richtige?«
Die warf einen kurzen Blick auf den Deckel und nickte. »Leg sie gleich mal ein und bring mir die Fernbedienung.«
Kurz darauf kuschelte sich Simon zu ihr auf die Couch und Hetty klickte sich durch die Fotos.
Simon kicherte, als er die Aufnahmen von George im Hochzeitsanzug sah. »Schaut der da aber vornehm aus. Und Tante Molly ist wunderhübsch!«
Hetty lächelte und meinte. »Das solltest du ihr das nächste Mal, wenn du sie siehst, sagen, da wird sie sich freuen!«
Als sie mit der Hälfte der Bilder durch waren, war es Zeit zum Essen und Simon zeigte wieder einmal, dass das Fassungsvermögen des Magens eines fünfeinhalbjährigen Jungen schier unermesslich war. »Ich liebe deine Knödel Tante Hetty!«
Die schüttelte lächelnd den Kopf. Der Kleine konnte als Einziger aus der Familie dieses Wort aussprechen und es hörte sich sogar richtig bayrisch an. Es machte ihm auch unwahrscheinlich Spaß sie zu fragen, wie verschiedene Dinge in ihrer Muttersprache hießen und er wiederholte mit Begeisterung diese fast unaussprechlichen Namen. Der momentane Favorit war Wolpertinger und er fragte ihr schier ein Loch in den Bauch, um zu erfahren, wie diese Konstrukte zusammengebaut wurden.
Nachdem das Geschirr in der Spülmaschine verstaut war, standen noch die restlichen Fotos an. Die Kommentare die Simon abgab wurden immer leiser und als ein paar Bilder lang, kein Ton mehr kam, stellte Hetty fest, dass er eingeschlafen war. Puh! Das war geschafft. Wieder einen Tag überlebt. Sie schaltete den DVD-Player aus und schloss ebenfalls die Augen. Ein bisschen vor sich hin dösen konnte nicht schaden. Stunden später zuckte sie hoch und weckte damit Simon auf.
Der blickte sie mit müden Augen an und wehrte sich nicht im Geringsten, als sie ihn hochhob und sagte. »Ich glaube, du willst ins Bett.«
Sie selbst ging auch gleich ins Schlafzimmer – der Tag war anstrengend gewesen und Kai und Patrick würden erst spät, wenn überhaupt, heimkommen.
Womit sie bei Kai recht hatte, der ihr noch Bescheid gab, dass er bei Hashimoto übernachten würde. Doch Patrick kam kurz vor Mitternacht nach Hause und stellte fest, dass bereits alles dunkel war. Den ganzen Tag hatte er Anordnungen gegeben, Telefonate geführt und es schließlich geschafft, dass alles so lief, wie er es wollte. Jetzt war er immer noch hellwach und musste erst noch abschalten, bevor er schlafen konnte. Er öffnete eine Flasche Rotwein, schenkte sich ein Glas ein und setzte sich in die Bibliothek.
Als er zur Fernbedienung des Fernsehers griff, sah er die DVD Hülle auf dem Tisch liegen. Ah, Simon und Hetty hatten Fotos angeschaut. Er starrte auf den Titel und seufzte – tja, damals hatte alles angefangen. Kurz darauf klickte er sich in schneller Folge durch die Bilder. Er wusste, welches Foto er suchte und stoppte, als er die Aufnahme fand, die Hetty damals am Pool von ihm gemacht hatte. Er konnte sich noch gut daran erinnern, dass sie an diesem Tag die ganze Zeit mit dem Fotoapparat durch die Gegend gelaufen war und Schnappschüsse gemacht hatte.
Als er nach dem Ausritt mit Kai und Chrissie alleine zum Schwimmingpool ging, hatte sie gerufen. »Kriegt die alte Frau noch ein Bild?«
Er hatte sich zu ihr umgedreht und sich an die gemeinsam verbrachten Nächte erinnert, als er sie ansah. Er musterte die Aufnahme und schüttelte den Kopf. Hetty hätte jederzeit Profifotografin werden können. Sie hatte ihn mitten in der Bewegung eingefangen und zugegebenermaßen war das ein sehr gelungenes Bild von ihm. Allerdings war der Ausdruck in seinen Augen auch äußerst vielsagend und wenn er das Foto früher gesehen hätte, wäre ihm wohl einiges klar geworden. Tja, ohne es zu wissen, war er schon zu dem Zeitpunkt in sie verliebt gewesen.
Schulterzuckend klickte er weiter und runzelte die Stirn, als er bemerkte, dass die Bilder nach der Hochzeitsfeier noch weitergingen. Was hatte sie da noch aufgenommen? Zähneknirschend stellte er fest, dass sie Fotos von Kai gemacht hatte. Natürlich, von wem denn sonst. Eine wunderbare Aufnahme, die ihn auf Zerberus zeigte, und ansonsten noch einige Studien seiner Gemütszustände. Allerdings hätten die eigentlich vor der Hochzeit einsortiert gehört und vor diesem Bild von ihm, denn die waren alle beim und nach dem Ausritt geschossen worden.
Doch sie hatte sie an den Schluss der Serie angeordnet. Seltsam – warum wohl? Hmm? Hetty tat nie etwas ohne Grund und den wollte er erfahren. Patrick nahm die DVD aus dem Recorder und schob sie in seinen Laptop – er würde schnell mal überprüfen, ob er mit seiner Vermutung, dass die Reihenfolge nicht stimmte, wirklich richtig lag. Die Festplatte ratterte, als er die Kopie herunterzog. Nachdem er die DVD wieder zurück in den Recorder geschoben hatte, öffnete er seinen Explorer. Dann stellte er im Ordnerverzeichnis der Fotos die Anzeigemodi der Dateien um und ließ alle Aufnahmen nach dem Erstellungsdatum sortieren.
In der Miniaturansicht sah er sofort, dass die Bilder von Kai anscheinend mit Absicht an das Ende der Serie gelegt worden waren, denn gemäß dem Datum hätten sie, genau wie er gedacht hatte, einen Tag früher eingeordnet gehört, nämlich da, wo sie jetzt erschienen. Warum hatte sie das wohl getan? Während er noch grübelte, entdeckte er, dass sich unter den ganzen Dateien noch eine Sicherungsdatei eines Bildes befand. Seltsam, was sollte das? Es gab eigentlich kein Bildbearbeitungsprogramm, das automatische Sicherungen erstellte. Auf den Doppelklick folgte keine Reaktion – nur der Hinweis, das diese Datei so nicht zu öffnen war.
Stirnrunzelnd nahm er einen Schluck aus seinem Weinglas und stellte dann nachdenklich den Schwenker wieder zurück auf den Tisch. Er hätte diese Datei nicht gesehen, wenn er nicht seinen Laptop benutzt hätte, auf dem auch versteckte Dateien angezeigt wurden. Und er kannte Hettys verquere Denkweise zur Genüge und auch ihren Hang zur absoluten Sicherheit, wenn es Geheimnisse betraf. Sie hatte sogar ihm, dem absoluten Computerexperten schon Tricks gezeigt, auf die er von selbst nie im Leben gekommen wäre.
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