1 ...8 9 10 12 13 14 ...21 Leif hatte mit einem Blick von der Tür in Linellas Kammer sofort erkannt, dass heute wieder so ein besonders schwieriger Tag für Eric war. Verbissen kniff er die Lippen zusammen. Es war ein so schöner Tag und er hatte sich so darauf gefreut, im Fluss zu baden. Er hatte gehört, dass auch die Mädchen des Dorfes zum Fluss gehen wollten. Sie gingen nie dorthin, um zu baden, sondern um den Jungen bei ihren Wasserkämpfen und Mutproben zuzusehen. Mit ihren Kleidern konnten sie nicht schwimmen und nur die Kecksten von ihnen hielten die Zehen ins Wasser. Die Jungen hatten eine bevorzugte Stelle am Ufer. Dort trat das Gras vom Ufer zurück und gab einen Abschnitt mit schönem, weißem Sand frei. Ein Baum war vor langer Zeit von einem Sturm in eine solche Schräglage gebracht worden, dass seine Äste über den Fluss ragten. Es galt als Mutprobe, von diesen Ästen ins Wasser zu springen. Nur die Mutigsten unter ihnen erklommen auch die obersten Äste. Auf einen Ast kletterte jedoch niemand. Er war der Höchste und seine Blätter spiegelten sich in der Mitte des Flusses. Jeder Sprung wurde von den Mädchen mit Beifall bedacht und von anderen Jungen kritisch kommentiert. Dabei kam es nicht nur darauf an, von welcher Höhe aus man sprang. Auch die Art des Sprunges wurde bewertet. So manch einer war schon durch einen gekonnten Salto für einen Sommer zum Helden der Dorfjugend geworden. Doch das war eher die Sache der älteren Jungen von dreizehn oder vierzehn Jahren. Leif und Eric waren dafür noch zu jung, obwohl sie zu den wenigen gehörten, die sich bereits in die höheren Etagen wagten. Für Leif gab es jedoch noch einen weiteren Grund, sich auf die Anwesenheit der Mädchen zu freuen. Mit Vergnügen hatte er sich vorgestellt, sich an sie heranzuschleichen und sie an den Zöpfen zu ziehen. Vor allem bei Jorid, einem Mädchen, ein Jahr jünger als er, tat er das besonders gern. Sie hatte lange braune Zöpfe und ihre dunklen Augen blitzten vor Empörung immer so lustig, wenn er das tat. Eric hatte ihn schon ein paarmal damit aufgezogen, dass er wohl in dieses Mädchen verliebt sei, was er heftig bestritten hatte. Aber wenn er ehrlich war, gefiel sie ihm von allen Mädchen am besten. Er mochte sie, aber vorerst war das sein Geheimnis, das er nicht einmal mit Eric teilen wollte.
Wortlos lief Eric neben seinem Freund her und schien das schöne Wetter gar nicht wahrzunehmen. Leif überlegte krampfhaft, wie er ihn etwas aufmuntern könnte. „Komm, wer zuerst am Fluss ist!“, rief er und lief los. Schon nach wenigen Schritten stoppte er, da er merkte, dass Eric ihm nicht folgte. Wenn sich Eric nicht mal zu einem Wettlauf ermuntern ließ, musste es ganz schlimm gewesen sein. In dieser Stimmung war er bestimmt nicht zu irgendwelchen Späßen aufgelegt und würde sicher nur trübsinnig ins Wasser starren. Es war genauso, wie Leif befürchtet hatte. Weitab von den anderen Kindern des Dorfes ließ sich Eric an einer Böschung zu Boden sinken. Stumm setzte sich Leif neben ihn. Sehnsüchtig blickte er in die Richtung, aus der das Lachen und Juchzen der anderen zu ihnen drang. „Du kannst ruhig zu ihnen gehen. Ich bin heute keine gute Gesellschaft“ sagte Eric zu Leif. Auch er kannte seinen Freund gut genug, um zu wissen, dass der sich seinen Tag ganz anders vorgestellt hatte. „Ich bleibe!“, sagte Leif knapp und sah Eric fest an. „Gib mir noch etwas Zeit. Dann komme ich mit dir mit“ bat Eric. Leif nickte. So war ihre Freundschaft. Keiner von ihnen dachte nur an sich. Sie suchten und fanden meist einen Weg, der für sie beide gangbar war. Sie legten sich in das warme Gras und blickten in den Himmel. Leif spürte, wie Eric mit seinem Kummer rang und versuchte, sich von ihm nicht überwältigen zu lassen. Gern hätte er ihn dabei in irgendeiner Weise unterstützt, aber im Moment war er ratlos. Da kam ihm sein jüngerer Bruder Thorben überraschend zu Hilfe. Sanft stupste er Eric an. „Er ist wieder da“, flüsterte er und grinste Eric schelmisch an. Eric wurde sofort hellhörig. „Thorben?“, fragte er ebenso leise zurück. Leif nickte nur ganz leicht. Thorbens liebstes Spiel war es, seinem großen Bruder und dessen Freund zu folgen und sie bei ihren Unternehmungen zu beobachten. Er war fünf Jahre jünger als die beiden und mächtig stolz, einen Bruder wie Leif zu haben. Eric war sein großer Held. So stolz und mutig wie er wollte Thorben auch einmal werden. Was dem Kleinen verborgen blieb, sein Bruder und Eric wussten, dass sie beobachtet wurden. Sie machten sich nur allzu gern einen Spaß daraus, plötzlich zu verschwinden und dann ihrerseits Thorben zuzusehen, wie er sie suchte. Er war ihnen zum Fluss gefolgt und hatte sich gewundert, dass sie nicht bei den anderen Dorfkindern waren. Er durfte mit seinen sieben Jahren noch gar nicht hier sein. Zu groß war die Gefahr, ins Wasser zu fallen und zu ertrinken. Erst mit zehn Jahren durften die Kinder allein an den Fluss. Leif zeigte Eric einen kleinen Stock, den er im Gras gefunden hatte und jetzt in der Hand hielt. Dann wies er mit dem Kopf zur Böschung. Eric grinste und nickte. Er hatte sofort verstanden, was sein Freund vorhatte. Mit einer blitzschnellen Bewegung warf Leif den Stock zur Seite. Im nächsten Augenblick ließen sich die Freunde die Böschung hinunterkullern.
Leifs Plan war aufgegangen. Von dem Aufprall des Stocks einen Moment abgelenkt, hatte Thorben nicht mitbekommen, wohin sein Bruder und Eric verschwunden waren. Thorben ärgerte es, dass es den beiden schon wieder einmal gelungen war, ihn zu überlisten. Missmutig sah er sich um. Weit konnten sie nicht gekommen sein. Hier gab es nur Gras. Kein Busch und kein Baum gaben ihnen Deckung. Ein freudiges Strahlen lief über sein kleines Gesicht, als er erkannte, dass er sich auf einer Böschung befand. Vorsichtig schlich er auf allen Vieren an den Rand. Drauf hatten die beiden Freunde nur gewartet. Deutlich konnten sie Thorbens aufgeregtes Atmen hören. Auf ein Zeichen von Leif hin sprangen sie beide mit einem tierischen Gebrüll aus der Deckung. Thorben prallte zurück und plumpste vor Schreck auf den Hosenboden. Dabei machte er ein so verdutztes Gesicht, dass Leif in prustendes Lachen ausbrach, in das Eric sogleich einstimmte. Sie hatten sich Schlamm ins Gesicht geschmiert und sahen zum Fürchten aus. „Leif, du bist gemein! Wie kannst du mich immer so erschrecken!“, rief er erbost. „Das werde ich Vater sagen!“ „Das tust du nicht. Denn dann werde ich ihm sagen, dass du uns zum Fluss gefolgt bist. Dann gibt es bestimmt eine Kopfnuss!“, erwiderte Leif, völlig unbeeindruckt von der Drohung seines kleinen Bruders. Lars, der Vater der Brüder, lehnte Prügel ab. Nur wenn es seine Jungen einmal zu wild trieben, gab es diese Form der Züchtigung. Das kam jedoch ganz selten vor. Dennoch hatten seine Söhne erheblichen Respekt davor. „Na und!“, rief Thorben trotzig. „Du bekommst dann aber auch eine, weil … weil …“ „Weil was?“, wollte Leif triumphierend wissen. „Weil du immer so gemein zu mir bist!“, fiel Thorben gerade noch ein. Leif lachte laut auf und das trieb seinem kleinen Bruder Tränen der Wut in die Augen. Dass er jetzt auch noch ausgelacht wurde, machte ihn rasend. Mit seinen kleinen Fäusten ging er auf seinen Bruder los. „Eric, hilf mir!“, rief Leif in komischer Verzweiflung und suchte hinter ihm Schutz. Dabei wollte es ihn angesichts der hilflosen Wut seines kleinen Bruders schier vor Lachen zerreißen. Eric hatte mit Thorben ein Einsehen, doch er hatte Mühe, den kleinen Trotzkopf zu bändigen. „Na komm schon. So schlimm war es doch auch wieder nicht!“, beruhigte er den Kleinen und wischte ihm die Tränen von den Wangen. „Du wirst uns doch nicht verpetzen, oder? Du bist doch kein Mädchen!“ Thorben schniefte und schüttelte den Kopf. Für ein Mädchen wollte er nicht gehalten werden, schon gar nicht von Eric. „Du siehst komisch aus“, sagte er und griente Eric in sein schlammbeschmiertes Gesicht. Es war erstaunlich, wie schnell bei Thorben die Stimmung umschlug. „Pass bloß auf! Wenn wir dich in den Schlamm werfen, siehst du gleich genauso aus“, drohte Eric scherzhaft. Thorben sah ihn mit großen Augen an und nahm dann so schnell ihn seine Beine trugen, erschrocken Reißaus. Leif, begeistert vom Vorschlag seines Freundes, war bereits einen Schritt auf seinen kleinen Bruder zugetreten. Aus sicherer Entfernung drehte Thorben seinem Bruder eine Nase und rannte dann ins Dorf zurück. Lachend sahen ihm die beiden Freunde hinterher. Dieses Lachen bewirkte, dass Erics Verzweiflung in grenzenlose Ausgelassenheit umschlug. Jetzt war er es, der Leif zum Wettlauf herausforderte.
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