Aus mehreren Gründen: Einmal in ganz erheblichen Maße, weil das persönliche Treffen, das Gespräch von Angesicht zu Angesicht, immer seltener wird. Wir verlernen das Deuten von direkten Reaktionen und die Einschätzung von Personen. Menschenkenntnis ist eine absterbende Fähigkeit. Und dann bremst auch die eingeschränkte Wahrnehmungsentwicklung andere Bereiche wie Motivation, Emotionalität und Motorik. Wir erleben immer mehr Menschen, die sich nicht selbst motivieren können und die glauben, andere wären dafür verantwortlich. Wir beobachten zudem ein Nachlassen der Gefühlsregungen zu Gunsten der „Coolness“. Und wir wissen, dass es ohne die motorischen Aktivitäten des Organismus keine sensomotorischen Koordinationsleistungen gibt. Es ist eine durch Studien erwiesene Tatsache, dass junge Leute sich immer schlechter bewegen können, weil sie zu lange vor diversen Bildschirmen hocken, um Botschaften größtenteils überflüssigen Inhalts zu empfangen und zu versenden.
Wissen und Selbstbild
Der Wahrnehmungsprozess wird sehr häufig in seiner Kompliziertheit unterschätzt, weil wir ihn als automatisch ablaufend erleben. Ob wir dabei allerdings Wahrnehmungstäuschungen unterliegen, die sehr oft vorkommen, wird uns nicht rückgemeldet. Wir können nur unseren Vorurteilen und Irrtümern einigermaßen vorbeugen, indem wir Wissen erwerben. Denn eines ist mal klar: Je weniger man weiß, desto einfacher wird das Selbstbild strukturiert sein! Dies muss nicht grundsätzlich nachteilig sein, wenn man in einer Gruppe lebt, die im Leben zu Recht kommt und sich gegenseitig hilft. Es fängt allerdings an problematisch zu werden, wenn Sie in unserer immer komplizierter werdenden Welt auf sich selbst gestellt sind und den beruflichen Anforderungen in Zukunft gerecht werden wollen.
Die hohe Arbeitslosigkeit in unserer Gesellschaft hat weniger mit der konjunkturellen Entwicklung zu tun, die immer schwanken wird, sondern vor allem mit dem massiven Fortfall von Arbeitsplätzen, für die geringe Qualifikationen ausreichten. Diese Arbeitsplätze in der Produktion und Verwaltung werden von Robotern und Computer-Netzwerken weitgehend eingenommen, oder ins erheblich günstigere Ausland verlagert. Um wettbewerbsfähig zu blei-ben, haben Unternehmer nicht nur die Tendenz, Kosten zu sparen, sondern sie werden von der Konkurrenz und ihren Kunden auch dazu gezwungen. Es ist ein Überlebenskampf, nicht nur der Personen, auch der Gesellschaften! Wer mehr Wissen hat als andere, verbessert seine Chancen deutlich.
Weg von illusionären Selbstbildern!
Die Übertragung eines falschen Selbstbildes der Eltern auf ihre Kinder, beispielsweise die verbreitete Ansicht, für die Erziehung und Ausbildung wären die Lehrer alleine zuständig, führt zur Chancenlosigkeit der nachfolgenden Generation. Viele Lehrer beklagen zu Recht, dass sich eine große Anzahl der heutigen Eltern zu wenig um ihre Kinder kümmern. Ihnen nichts vorlesen, zu wenig mit ihnen sprechen, kaum mit ihnen spielen und auch nicht immer auf gesunde Ernährung achten. Sie nehmen einfach ihre Elternrolle nicht so wahr, wie sie es tun müssten, um auf die Schule und das Leben vorzubereiten.
Die Illusion, man könne alles gleichzeitig haben, tagsüber einen Vollzeitberuf, nachts Party ohne Ende, dazu teuere Luxusgegenstände und den Aufbau einer funktionierenden Familie, ist auf Selbstbilder zurückzuführen, die in den Medien dargestellt werden und mit der normalen Wirklichkeit unvereinbar sind. Wenn Patchwork-Personen mit Patchwork-Selbstbildern etwas gestalten wollen, kommen natürlich nur wieder Flickenteppiche heraus. Die Schokoladenseite angeblichen Prominentenlebens, dieses getrennte Zusammenleben, taugt eben schlicht nicht zur Kopie, schon gar nicht, wenn Kinder da sind. Wird aber immer wieder gerne angestrebt und lässt Partnerschaften reihenweise scheitern.
Werdet endlich erwachsen!
Die Infantilisierung unserer Gesellschaft ist weit fortgeschritten, aber deshalb kein Grund für irgendjemand, auf dieser Welle mitzuschwimmen. Die Angelsachsen haben ja immer griffige Beschreibungen für alles. Middle Youth für Erwachsene, die wie Jugendliche leben und fühlen. Oder Kidults für jene, die bis in ihre Vierziger Jünglinge oder Mädchenfrauen bleiben. Die übertriebene Ausdehnung der Jugendphase ist ein Abwehrreflex auf die harte Wirklichkeit unseres Lebens und verewigt den Selbstfindungsprozess. Nichts ist letztlich eine hoffnungslosere Überforderung für jeden Erwachsenen, wenn er sein gesamtes Leben als pubertäre Orientierungslosigkeit begreift, in der Unreife, Entscheidungsschwäche und Bindungsangst absolut im Mittelpunkt stehen. Das Leben nur als Zuschauer zu sehen, vielleicht sogar phasenweise zu genießen, weil man keine Verantwortung trägt, reicht nicht.
Ein brauchbares Selbstkonzept umfasst die Gefühle und die Denkinhalte, die Sie sich selbst gegenüber haben. Dieses theoretische Konstrukt kann Ihnen in solchen Situationen als richtunggebender Leitfaden dienen, in denen ihr Ich beteiligt ist. Das Ich (lateinisch: ego) ist ihr Persönlichkeitskern. Nur dann, wenn man genügend Ichstärke hat, kann man Belastungen und Konflikte ohne seelische Beeinträchtigungen aushalten. Es lohnt sich wirklich sehr, sich immer wieder neue, frische Gedanken zu machen, welche Persönlichkeit man werden will und wie man das Wissen über sich selbst komplettiert, um zu mehr Selbstbewusstsein und Selbstverwirklichung zu kommen. Nur Mut! Man kann nicht auf Probe leben oder entlang bürgerlicher Lebensbaupläne, die es nicht mehr gibt. Nur wenn Sie mit Wissen und Erfahrung kontinuierlich und möglichst ohne zu viele radikale Schnitte an ihrem Selbstbild arbeiten, werden Sie wissen, was Sie wollen. In Würde alt werden. Beispielsweise.
4. Kapitel: Was ist eigentlich Liebe?
„Liebe hat mit dem Göttlichen zu tun, sie verheißt
Unendlichkeit, Ewigkeit – das Größere und ganz
andere gegenüber dem Alltag unseres Daseins.“
(Papst Benedikt XVI. in seiner Enzyklika von 2006)
Das Ethos der Liebe, also unsere moralische Haltung gegenüber einem Begriff, der den meisten Menschen sehr viel bedeutet, hat in den vergangenen Jahrzehnten Veränderungen erfahren. Sicherlich wird die Liebe nach wie vor als eine intensive gefühlsmäßige Zuwendung empfunden. Vor allem gegenüber einem anderen Menschen, aber auch gegenüber der Natur, zum Geld und zu bestimmten Ideen wie der Freiheit sowie zu den verschiedenen Religionen und zu Gott.
„Leben ist das Gegenteil von lieben“, hat Albert Camus geschrieben, Nobelpreisträger für Literatur und einer der bedeutendsten philosophischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Daran ist viel Wahres, wenn wir uns mit der Gestaltung unseres Lebens und den zahllosen Klippen, die es zu überwinden gilt, befassen, und dann an die Liebe denken, die einfach plötzlich da sein kann. Doch wir sollten auch wissen, dass die Beschäftigung mit unserem Selbstbild viel mit unserer Selbstliebe zu tun hat, die seit Aristoteles, also seit über 2.300 Jahren, die Voraussetzung ist, einen Anderen zu lieben. Und die nicht verwechselt werden sollte, mit der Selbstsucht, also dem Egoismus. An dieser Erkenntnis hat sich seither nichts geändert, sie ist so lebendig wie eh und je.
Als Erotik bezeichnen wir alle körperlichen und seelisch-geistigen Erscheinungsformen der Liebe. Wobei für unser heutiges Verständnis von Erotik durchaus die Philosophie Platons eine Rolle spielt, der davon ausgeht, dass der einst gottähnliche, doppelgeschlechtliche Mensch von Zeus in zwei Hälften geteilt wurde, die sich miteinander vereinigen wollen, um die ur-sprüngliche Ganzheit und Vollkommenheit wieder herzustellen. Der gesamte erotische Bildungsprozess entwickelt sich vom schönen Leib über die Liebe zur schönen Seele hin zum Schönen selbst, das zugleich das Wahre und das Gute ist. Die christliche Vorstellung von der Gottes-liebe, die Geschlechtsliebe als Hindernis auf dem Weg zum Heil ansah und die Nachfahrin Evas, die Frau, dafür als Sünderin auserkor, zeigt den engen Zusammenhang von Mythos und Religion sowie erotischer und religiöser Ekstase in vielen Kulturen.
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