Joachim Kath
Herzkalt
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Inhaltsverzeichnis
Titel Joachim Kath Herzkalt Dieses ebook wurde erstellt bei
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
Impressum neobooks
Es war an einem Tag wie jeder andere, als alles begann. In den seriösen Zeitungen stand auf der ersten Seite, was in den Boulevardblättern auf der letzten stand. Und umgekehrt! Irgendjemand hatte sich mit irgendjemand getroffen. Ein Politiker mit seinesgleichen, ein Mörder mit seinem Opfer, ein prominentes Liebenspaar miteinander. Die Luftfeuchtigkeit lag bei gerade noch erträglichen 86 Prozent.
Ich hatte an jenem Tag, wie an allen Wochentagen, das berühmte Herzklopfen des New Yorkers, der kleine ausländische Münzen oder Metallplättchen von geringem Wert in die Schlitze der Subway-Sperren wirft. Die Dinger, rund zwanzig Mal billiger als die offiziellen Tokens zu erstehen, wurden ganz offen in den Straßen vor den Stationen feilgeboten. Verkaufen und besitzen durfte man sie, nur in die Automaten stecken durfte man sie natürlich nicht. Aber wer hielt sich in einer Stadt, in der schon der Normalverdiener ums nackte Überleben kämpft, an Vorschriften?
Was an dem Tag im Büro los war, business as usual wahrscheinlich, habe ich verdrängt. Doch daran, dass ich mir von Ernesto, dem Puertorikaner, an dessen Kolonialwarenlädchen ich auf dem Nachhauseweg immer vorbei kam und das er mit Hilfe seiner ständig wachsenden Familie fast rund um die Uhr offen hielt, ein Paar Büchsen Bier und Sandwiches einpacken ließ, erinnere ich mich noch genau. Oder waren es zwei Portionen Pastrami, jenes unglaublich dünn geschnittene, gepökelte und gebratene Rindfleisch, von dem immer alle behaupteten, es würde nie eine Weide gesehen haben? Und das sie trotzdem alle mit Genuss aßen. Seit Jahren.
Gerade als ich mich, wenigstens daran ist meine Erinnerung exakt, vom Schnürbänderlösen aufrichtete, die Lehne meines Lieblingssessels sanft im Kreuz spürte und mich anschickte, die am Morgen begonnene Zeitung zu Ende zu bringen, ließ meine Frau Judith, die von der Küche aus mit halbem Auge die CBS Evening News verfolgte, ihr verzweifelt aufgeregtes Doppel-Nein hören. Das zweite Nein lauter als das erste. Entweder war etwas Dramatisches geschehen oder etwas Banales. "Vielleicht ist die Milch wieder übergekocht", dachte ich.
Trotzdem blickte ich hoch. Auf dem Bildschirm zeigten sie gerade einen ziemlich schmutzigen, gefliesten Raum, wie er für öffentliche Toiletten typisch ist. Auf dem Boden lag, soweit man das überhaupt erkennen konnte, ein junges Mädchen oder eine junge Frau, von der im Kommentar behauptet wurde, es sei die 27. Drogentote in diesem, erst zwei Wochen alten Jahr. Allein in New York.
"Das ist doch Dorothy", rief Judith entsetzt, "Dorothy, mit der Jane auf Europatrip ist! Ihre Freundin Dorothy!"
"Das kann nicht sein!" versuchte ich meine Frau zu beruhigen, "wir haben erst gestern von unserer Tochter Jane eine Ansichtskarte aus Salzburg bekommen, mit Mozarts Geburtshaus drauf. Und beide Mädchen haben unterschrieben."
Im Fernsehen versuchten sie sich bereits an der Wetterprognose anhand eines unscharfen Satellitenfotos. Lot of thunderstorms in der Karibik, so viel war mal sicher. Judith beharrte, es wäre Dorothy gewesen und ich müsste unbedingt Dr. Snyder anrufen, den Vater des Mädchens, der ein paar Blocks weiter eine Zahnarztpraxis betrieb.
"Warum die Welt mit einer Vermutung verrückt machen?" war mein Standpunkt. Aber Judith blieb hartnäckig. Sie griff selbst zum Telefon und weil sich bei den Snyders niemand meldete, rief sie schließlich die Polizei an.
Die Tote könne im zentralen Leichenschauhaus von Manhattan identifiziert werden. Einen Ausweis habe sie nicht dabei gehabt, erfuhr man.
"Es war Dorothy!" sagte Judith, so als wenn sie sich in ihrer Meinung bestätigen wollte. "Es ist unsere Pflicht, hinzufahren! Wie du so ruhig im Sessel sitzen kannst, verstehe ich nicht. Wir müssen der Sache auf den Grund gehen!"
"Das können wir immernoch! Morgen ist Zeit dafür! Tote laufen einem nicht weg! Aus der Hölle von Manhattan komme ich gerade! Ich argumentierte, doch sie blieb stur.
"Wenn du nicht mitkommst, fahre ich allein", sagte sie, wohlwissend, dass ich das niemals zulassen würde. Zu dieser Stunde konnte keine Frau alleine auf die Straße. Nach einigem hin und her begleitete ich sie schließlich mit mürrischem Gesicht.
In der Subway saß ein junger, schwarzer Polizist, über dessen lange Beine jeder Passagier, der in den hinteren Teil des Wagens gelangen wollte, steigen musste. Am liebsten hätte ich eine Bemerkung gemacht. Aber er hatte einen großen, polierten Massivholzknüppel über seine Knie gelegt, den er liebevoll streichelte. Dr Retter im Falle eines Überfalls gab sich drohend, auch gegenüber den möglichen Opfern.
Der Museumsbau des Leichenschauhauses wirkte gespenstisch. Die Wände des Raumes, in den sie uns führten, zierten statt Gemälde blanke Metallplatten mit Griffen dran. Es brannte kaltes, fahles Licht. Die Platten waren die Stirnseiten von mannsgroßen Schubladen, in denen die Toten der letzten 24 Stunden lagen.
"Junge Frauen haben wir sechs!" sagte der Mann im grünen Kittel, "die normale Tagesquote! Im Jahresdurchschnitt!"
"Sie ist erst heute Abend im TV gezeigt worden!" sagte Judith.
"Die neu Eingelieferten sind auf der anderen Seite", sagte der Mann, als wenn er von War sprach. Mit einiger Anstrengung zog er einen der schweren Metallbehälter auf Schienen halb heraus.
"Sind Sie die Eltern?" fragte er und deckte vorsichtig, ohne die Antwort abzuwarten, das Kopfende auf. Wir waren auf den Anblick vorbereitet, aber wir brachten einfach einige Sekunden, eher wir etwas erkannten. Es war Dorothy. Auf dem vom Pathologen ausgefüllten Formular stand als Todesursache: Überdosis Heroin. Judith schluchzte.
"Nein, wir sind nicht die Eltern", sagte ich, "aber wir kennen ihren Namen. Sie heißt Dorothy Snyder.
"Die Tote muss von ihren nächsten Angehörigen identifiziert werden, wenn sie in der Stadt sind, das ist Vorschrift. Und zwar innerhalb eines Tages!"
"Was ist, wenn nicht?" fragte ich automatisch.
"Dann wird sie auf Hard Island von Sträflingen in einem Massengrab verscharrt. Die Stadt New York muss sparen. Einäschern käme teurer!"
Wir gaben ihm die Adresse.
Dann sahen wir uns noch die Gsichter der anderen fünf weiblichen Leichen an, aber unsere Tochter Jane war nicht darunter. Es war keine vollkommene Beruhigung. Wo war Jane? War sie noch in Europa? Waren die beiden Mädchen, gerade achtzehn Jahre alt, überhaupt in Europa gewesen? Judith bestürmte mich mit Fragen.
Wir geingen noch in der selben Nacht zum Polizeirevier und gaben eine Suchmeldung auf. Der Wachhabende versuchte uns zu trösten: "In New York gehen jede Nacht mehr Frauen als Autos verloren und tauchen am nächsten Morgen wieder auf. Die allermeisten unbeschädigt, was man von den Autos nicht behaupten kann!" Er grinste dabei zynisch und hielt auch nicht inne, als ich ihn strafend ansah. Unsensibel wie er war, kam für ihn nur Sex in Frage, wenn Frauen verschwanden. Er hatte es nicht ausgesprochen, aber sein Grinsen war deutlich genug gewesen.
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