In diesem Augenblick betrat Mr. Miller den Klassenraum. „Ich vermisse Ihre Tochter, Mr. Koch!“ sagte der Lehrer in seinem texanischen Akzent, der Vorwürfe glättet. „Deswegen bin ich hier“, sagte ich und erzählte ihm die Geschichte mit Dorothy. Er kannte auch niemanden der mit den Mädchen zusammen gewesen war, wollte mal seine Kollegen fragen, den Hausmeister, Schüler aus anderen Klassen. Ich sollte ihn in der nächsten Woche anrufen. Hoffentlich war mein Lächeln nicht zu mild.
Der silberne Mercedes! Das war ein konkreter Anhaltspunkt! Es waren genau 2.956 silberne Mercedesse im Staat New York registriert, erfuhr ich bei der Behörde. Damit alleine kann man natürlich nichts anfangen. Meine Idee war, nachdem ich wenigstens das herausgefunden hatte, die Passagierliste, wenn ich sie denn hätte, mit den Zulassungen der Autos zu vergleichen, wenn ich deren Besitzer namentlich hätte. So eine Art Rasterfahndung. Ich ging nochmals zur Polizei, um meine Idee vorzutragen. An höherer Stelle, diesmal.
Wenn Laien schon Fachleuten einen Gedanken näher bringen wollen, so etwas scheitert regelmäßig an der Psychologie. „Die Tote ist nicht ermordet worden“, sagte mir der Inspektor, „folglich ist der Fall für uns abgeschlossen! Und was die Vermisste angeht: Die Meldung ist an jede Polizeidienststelle im ganzen Land durchgegeben. Wenn sie aufgefunden wird, werden Sie sofort benachrichtigt.“
„Es ist mein einziges Kind“, sagte ich.
„Sie kümmern sich wenigstens um Ihr Kind, auch wenn es kein Kind mehr ist. Das ist lobenswert, Sir! Wir haben oft Vermisste, die niemanden mehr haben und die folglich auch niemand vermisst.“
„Was würden Sie an meiner Stelle tun?“
„Ich würde nach Hause gehen und dort warten. Vielleicht klingelt das Telefon gerade jetzt und ihre Tochter ruft an, um Ihnen zu sagen, Sie sollen sie irgendwo abholen, weil sie kein Geld mehr für die Subway hat“.
„Sie kennt meine Handy-Nummer!“ sagte ich und dachte zugleich, hat der eine Ahnung, Jane kennt den Trick mit den Metallplättchen und ausländischen Münzen auch. Die kann immer fast umsonst mit der Bahn fahren, wenn sie will.
„War ja nur ein Beispiel! Vielleicht hat sie bei ihrem Freund übernachtet!“
„Es sind jetzt schon diverse Nächte vergangen. Es fällt mir schwer, nichts zu tun!“ versuchte ich mein Engagement zu rechtfertigen.
„Wenn wir sie nicht finden, finden Sie Ihre Tochter schon gar nicht!“ stellte er nüchtern fest.
„Wied diese Chance größer, wenn ich tatenlos abwarte?“ fragte ich ironisch und verließ wütend das Revier.
Mich als Fassadenkletterer zu betätigen und in Fluggesellschaften oder Behörden einzubrechen, war nicht gerade meine Spezialität. Ich hatte mein Geld bisher am Schreibtisch verdient. Das macht nicht gelenkiger, höchstens geistig. So kam ich nach einigem Nachdenken auf die Idee, nicht nur die Behörden hätten Zulassungskarteien in ihren gewöhnlich abgeschrubbten grauen Blechschränken, die sie für nichts in der Welt Normalsterblichen zugänglich machen, sondern auch die Autoverkäufer. Wie man weiß, haben sie Kundenadressen in ihren Computern, hantieren gerne mit Tageszulassungen und verkaufen überhaupt so allerhand.
Ja, so manchem Autoverkäufer ist alles zuzutrauen. Sie müssen sich um ihre Aufträge selbst bemühen und sind immer geneigt, etwas nebenbei zu verdienen, beispielsweise mit der Vermittlung von Versicherungen, Krediten und Leasing-Verträgen. Vielleicht auch, so dachte ich mir, mit dem Verkauf von Adressmaterial, sagen wir mal an eine Firma, die Zubehör für Autos jener Nobelmarke vertreibt, deren selbsternannter Repräsentant ich augenblicklich wurde. So eine Visitenkarte, die etwas hermacht, selbst mittels eines speziellen Programms am PC zu gestalten, fiel mir nicht besonders schwer.
Alle diese Verkäufer von großen Luxuslimousinen scheinen diese identische Arroganz und diese mühsam geschulten Manieren, sowie diese aufgesetzte Eleganz aus der Werbung für Herrendüfte, unbedingt verströmen zu müssen. Auch der geschniegelte Herr mit den grauen Schläfen und der Perle in der Krawatte missverstand mich zunächst, weil ich nicht als Käufer auftrat. Die Zubehörabteilung wäre in der Bronx, versuchte er mich loszuwerden.
„Ich hätte da ein Geschäft für die Park Avenue“, blieb ich hartnäckig.
„Mein Job ist es, Autos zu verkaufen“, wollte er mich abwimmeln.
„Das ist mir klar, Sir! So wie Sie auftreten, können Sie gar nichts anderes als ein Star-Verkäufer sein. Ich hätte Ihnen ein brandneues Konzept zu präsentieren, wie Sie potenzielle Käufer teuerer Wagen per Mail ansprechen können, ohne dass die gleich gelangweilt wegschauen“.
„Schießen Sie los!“ sagte er und die Dollarzeichen blitzten in seinen Augen.
„Meine Firma hat einen Super-Metallic-Sprühlack entwickelt, der teuer und sehr gut ist. Wir wollen eine Testimonial-Kampagne machen und suchen dafür Leute, die unser innovatives Produkt kostenlos ausprobieren wollen und gleichzeitig fotogen sind. Ich hatte an alle Fahrer von silbernen Mercedessen in der Stadt gedacht.“
„Verstehe! Was sind Ihnen die Adressen wert?“ fragte er eilfertig und gar nicht erst bemüht, sein Interesse an dem Geschäft zu verbergen.
„Die Adressenvermittler verlangen für tausend Stück 50 Dollar. Ich biete Ihnen das Doppelte!“
„Sagen wir 200 und die Sache läuft!“ sagte der feine Herr leise.
„Okay, 120!“
„180!“
Es war wie auf dem Basar. Ich zog 450 Dollar aus der Tasche, die ich vorher abgezählt hatte und sagte: „Die gehören Ihnen, wenn Sie die kompletten fast dreitausend Adressen liefern!“
„Wir treffen uns in zwei Tagen, ich muss die Datei erst auf eine CD brennen. Am besten in dem Lokal an der Ecke!“ Er gab mir seine stahlgestochene Visitenkarte mit englischer Schreibschrift. Ich sollte ihn anrufen.
Zwei Tage hatte ich Zeit zum Nachdenken. Wie kam ich an die Liste der Fluggesellschaft? Die gusseiserne Vorzimmerdame des Direktors wirkte nicht so empfänglich für Nebenverdienste und auch mein Charme würde bei ihr wohl nicht ausreichen. Wenn ich in zwei Tagen mit der Mercedeskäuferliste zur Fluggesellschaft ginge und darum bitten würde, zu prüfen, ob ein Name in beiden Listen auftaucht, was würde dann passieren? So ein Vergleich von rund 200 Namen von Flugpassagieren mit um die dreitausend Namen von Autobesitzern würde glatt zwei bis drei Stunden dauern. War das überhaupt realistisch? Sicherlich würden sie mir ihre Liste nicht mitgeben, auch nicht als Kopie. Außerdem wusste ich ja noch gar nicht, nach welchen Namen ich überhaupt suchte, sondern die theoretische Annahme bestand darin, dass in den beiden Verzeichnissen ein identischer Name auftauchte. Ein wahnsinniger Zufall wäre das!
Es war ein kalkuliertes Risiko, einfach nochmals das Büro der Fluggesellschaft aufzusuchen, mit der Liste der Mercedes-Fahrer in der Hand. Wenn mir meine Bitte abgeschlagen würde, die Passagierliste durchzugehen, hätte ich kaum noch eine Chance, durch einen Trick zum Ziel zu kommen. Jedenfalls würde die Wahrscheinlichkeit minimal werden, an die Daten zu kommen. Einen Einbruch zog ich gar nicht erst in Erwägung, schon weil ich mir das selbst nicht zutraute und einen Profi zu dingen, erschien mir unmöglich, weil ich mich in diesem Milieu nicht auskannte. Trotzdem beschloss ich, wieder zum Glaspalast der Airline zu fahren, sobald der Autoverkäufer sein Versprechen eingehalten hatte. Die zwei Tage dauerten ewig und waren die Hölle.
Als ich ihn wie vereinbart anrief, um die Zeit für unser Treffen festzulegen, dirigierte er mich zu seiner Wohnung um. Ich befürchtete schon, er wollte bluffen. Doch er hatte nur vergessen, dass es in dem ursprünglich vorgesehenen Lokal genügend Leute gab, die ihn kannten und deshalb war aus seiner Sicht eine Übergabe dort unmöglich. Ich schlug ihm vor, sich in einem Park zu treffen, weil ich ungern alleine in fremde Wohnungen gehe, doch er meinte, unter freiem Himmel wären wir nicht abgeschottet genug und irgendjemand könnte mit seinem Foto-Handy zufällig eine Aufnahme machen oder der Ort würde sowieso videoüberwacht.
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