Larsson nickte. »Wir wollen sofort beginnen, alle ihre Freunde zu befragen.«
Sibylle Koch stand auf, ging zu dem kleinen Schrank neben dem Fenster zur Straße und entnahm ihm einen kleinen Block, der von einem Einkaufscenter als Werbung verteilt worden war, um die Kunden daran zu erinnern, wo man seinen Einkauf erledigen soll, und einen Kugelschreiber. Sie kam zurück zum Tisch und fing an, Namen aufzuschreiben. »Ihre beste Freundin war bisher Pauline Bach.«
Während sie den Namen aufschrieb, fragte Larsson: »Wieso war?«
»Ich weiß es nicht, jedenfalls nicht genau, weil Chantal nicht so recht mit der Sprache herauskommen wollte. Ich könnte mir aber vorstellen, es ging um einen Jungen.«
»Das geht es in diesem Alter immer.«
»Die Pubertät ist wohl bei jedem Menschen ein schwieriges Alter«, stellte die Frau fest. »In der Beziehung war meine Tochter wie alle anderen auch.«
»Hatte sie schon Kontakte zu Jungs?«
»Wenn Sie meinen, ob sie mit Jungen befreundet war, kann ich das bestätigen. Wenn Sie mich aber fragen, ob es sich um sexuelle Kontakte handelte, muss ich das verneinen.«
»Das sind Sie sich sicher?«, fragte Larsson.
Die Frau hob die Schultern und machte ein bedenkliches Gesicht. »Chantal und ich hatten eigentlich keine Geheimnisse. Wir erzählten uns immer alles. Aber wenn ich es genau bedenke, habe ich meiner Mutter auch nicht immer alles erzählt.«
»Haben Sie die Telefonnummer von Pauline Bach?«
Die Frau nickte.
»Schreiben Sie sie bitte dazu. Und den Namen des Jungen, um den es ging, würde ich Sie auch bitten, aufzuschreiben.«
Die Frau nahm den Kopf hoch und sagte: »Den Namen des Jungen hat Chantal als ihr Geheimnis gehütet.«
»Na ja, bestimmt weiß ja Pauline Bach, wie der Bursche heißt.«
Simons kam aus Chantals Zimmer zurück. Als Larsson ihn fragend ansah, schüttelte er den Kopf. »Nichts zu finden, was auf das Verschwinden des Mädchens hinweisen könnte. Aber sie hat einen Laptop, und den würden wir gerne mitnehmen.«
»Ich habe nichts dagegen. Nehmen Sie ihn mit.«
»Auf welche Schule geht Ihre Tochter?«, fragte Larsson, während Simons den Laptop holte.
»Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«, fragte die Frau.
»Nein danke, so lange wollen wir gar nicht bleiben.«
»Auf das Maxim-Gorki-Gymnasium in Heringsdorf.«
»Das ist im Gothener Landweg«, warf Simons ein, der mit dem Laptop unterm Arm in der Tür stand. »Gleich um die Ecke unserer Dienststelle.«
Larsson wandte sich an die Frau. »Geht Pauline Bach auf dieselbe Schule?«
»Sie sind in einer Klasse. Die Mädels sitzen sogar zusammen.«
Sibylle Koch hatte die Liste fertig und reichte sie Larsson. Es waren nur vier Namen, die auf der Liste standen.
»Ich gehe davon aus, dass Ihre Tochter ein eigenes Handy hat«, sagte Larsson.
Die Frau bejahte das, und Larsson schrieb die Nummer mit auf die Liste.
»Sie ist zwar überall beliebt, meine Chantal, aber sie sucht sich ihren Umgang sehr genau aus«, sagte Sibylle Koch, als sie Larsson fragendes Gesicht sah.
»Ihr erster Satz, als wir hereinkamen, war: Ich weiß nicht, was das Mädchen sich dabei denkt! Halten Sie es für möglich, dass sie durchgebrannt ist?«, fragte Larsson und schaute Sibylle Koch durchdringend an.
»Möglich, möglich … Eigentlich halte ich es für unmöglich, aber wer kann das schon zu hundert Prozent beantworten.«
»Wir werden in der Schule anfangen«, sagte Larsson, »und mit Fräulein Bach reden. Ich brauchte noch ein Foto Ihrer Tochter.«
Die beiden Kommissare verabschiedeten sich.
Als sie aus dem Haus traten, stand vor ihrem Dienstwagen ein Streifenwagen. Sie kannten die beiden Polizisten aus dem Kommissariat in Heringsdorf und konnten mit einigen Worten den Ärger wegen des Falschparkens abwenden.
»Was hast du für ein Gefühl bei Frau Koch?«, fragte Larsson.
Simons gab Gas und winkte den Streifenpolizisten noch einmal zu. »Wie meinst du das, Lasse?«
»So wie ich es sage.«
»Sie macht einen ordentlichen Eindruck, so wie die ganze Wohnung.«
»So meine ich das nicht.«
Simons kannte Larsson zu genau, um an seiner Stimme nicht herauszuhören, dass ihn die Antwort nicht befriedigte. Noch ehe er eine neue Antwort formulieren konnte, sagte Larsson: »Sie war konträr in ihrem Verhalten. Als wir kamen, begrüßte sie uns mit einem Vorwurf ihrer Tochter gegenüber. Als wir im Wohnzimmer saßen, stellte sie ihre Tochter als ihre beste Freundin vor, die vor einander keine Geheimnisse haben. Und als wir gingen, war sie sich gar nicht mehr so ganz sicher, dass sie nicht doch irgendein Geheimnis umgibt.«
»Ich habe zwar keine Kinder«, sagte Simons. »Aber wenn ich bedenke, was ich meiner Mutter tatsächlich gesagt habe«, er lachte auf, »und das im Verhältnis zur Wahrheit sehe, glühen mir noch heute die Ohren.«
Sie waren im Gothener Landweg angekommen und parkten neben einer Reihe von Autos, die wahrscheinlich den Lehrern gehörten. Vor ihnen lag das Maxim-Gorki-Gymnasium ein lang gestrecktes, in T-Form erstelltes Gebäude. Auf dem Schulhof war keine Menschenseele zu sehen. Es war Unterrichtszeit. Sie gingen zum Büro des Direktors und wurden von seiner Sekretärin empfangen. Die Männer wiesen sich aus und verlangten, den Direktor zu sprechen.
»In welcher Angelegenheit?«, fragte die junge Frau.
»Das werden wir selbst vortragen«, sagte Larsson bestimmend.
Die Frau ging zur Verbindungstür, klopfte und verschwand kurz im angrenzenden Raum. Dann kam sie zurück, lächelte süffisant und sagte: »Direktor Scharschmidt lässt bitten.«
»Kriminalpolizei? Sie kommen wegen welcher Angelegenheit?«, fragte Scharschmidt und zeigte auf eine Sitzgruppe.
»Wir untersuchen das Verschwinden Ihrer Schülerin Chantal Koch«, sagte Larsson lapidar.
»Das Verschwinden von Chantal Koch? Davon weiß ich noch gar nichts.« Sein Erstaunen war ehrlich. »Aber wenn eine Schülerin verschwindet, ist das immer eine Negativreklame für unsere Schule. Hoffentlich ist ihr nichts passiert.« Er öffnete die Tür zum Sekretariat und sagte: »Schauen Sie bitte, wer der Klassenlehrer von Chantal Koch ist.« Er wartete, bis die Sekretärin im Computer nachgeschaut hatte.
»Frau Admannshagen …«
»Ist sie jetzt in der Klasse?«
»Ja.«
Scharschmidt schloss die Tür. Er schaute auf seine Armbanduhr und sagte: »Es sind noch sieben Minuten bis zur großen Pause, dann können wir mit Frau Admannshagen sprechen.«
»Können Sie veranlassen, dass die Klassenlehrerin die Schülerin Pauline Bach mitbringt?«
»Pauline Bach …«, sagte er lang gedehnt. Er ging zur Tür zurück und wies seine Sekretärin an, zum Beginn der Pause die Lehrerin und die Schülerin Pauline Bach in sein Büro zu bringen.
»Sie haben sicher ab und zu Abgänge von Schülern oder Schülerinnen«, sagte Simons.
»Das kommt schon vor, dass Jugendliche für einige Zeit verschwinden, weil sie von zu Hause weggelaufen sind oder weil sie untertauchen, um nicht an der einen oder anderen Prüfungsarbeit teilnehmen zu müssen.«
»Aber sie tauchen immer wieder auf?«, fragte Simons.
»In der Regel schon.«
»In der Regel? Hatten Sie schon mal einen Abgang eines Schülers, der nicht wieder aufgetaucht ist?«, fragte Larsson.
»Nein. Bei uns ist das nicht vorgekommen. Aber es gibt sicher Schulen, denen das nicht erspart geblieben ist.«
Vor der Tür wurden Schritte laut. Es wurde geklopft, und die Lehrerin kam in Begleitung eines Mädchens zur Tür herein.
»Ich habe gehört, die Schülerin Chantal Koch ist nicht in der Schule«, stellte der Direktor mit vorwurfsvoller Stimme fest.
»Seit Freitag fehlt Chantal«, sagte die Lehrerin, »aber das war noch kein Grund, beunruhigt zu sein. Ich hatte ohnehin vor, Frau Koch nach dem Unterricht anzurufen und zu fragen, warum Chantal unentschuldigt fehlt.«
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