»Wir haben eine neue Leiche«, sagte Kriminalkommissar Andresen, nachdem er bei Larsson angeklopft hatte und schließlich vor dem Schreibtisch seines Chefs stand. »Na ja, keine ganze Leiche, aber einen Teil davon, nämlich einen Arm.«
»Wo?«
»Querab Ostklüne im Usedomer See.«
»Dann lass uns eben hinfahren. Sagst du Karl Bescheid?« Larsson nahm den letzten Schluck aus seiner Kaffeetasse. Er stand auf, verschloss sorgfältig die obere Schublade seines Schreibtischs und nahm sein Sakko, das über der Stuhllehne hing, während Andresen im Büro der Kommissare vorbei ging und Simons instruierte.
Sie fuhren bis Welzin, sahen die kleine Verbindung zum Wasser, fuhren aber weiter, bis nach Ostklüne, wo man den aufgetriebenen Arm aus dem Wasser gefischt hatte. Direkt am Ufer stand ein Funkwagen der Polizei, und wenige Meter im Wasser lag ein Cranchi Clipper 760, ein schnittiges Boot mit 280 PS. Die beiden Polizisten des Streifenwagens waren im Gespräch mit dem Bootseigner, als Larsson auf sie zufuhr.
»Hallo Herr Larsson«, begann der ältere Polizist das Gespräch. »Das ist Herr Magnus Dollinger, der sein Boot in der Marina in Balm liegen hat. Er und seine Begleiterin haben den Arm aus dem Wasser gefischt.«
Der Fund eines Leichenteils hatte sich bereits wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Gierige Voyeure suchten Lücken in der Absperrung, um an Informationen aus erster Hand zu kommen.
»Sie müssen die Neugierigen besser zurückhalten.« Larsson sah auf das am schmalen Schilfgürtel liegende Fragment eines Armes. Er ging näher und beugte sich herab. »Sieht aus wie ein Frauenarm«, sagte er. »Jedenfalls den Fingernägeln nach.« Dann drehte er sich zu den beiden Polizisten um. »Decken Sie bitte den Arm ab, es sind schon die Fliegen dran. Haben Sie einen Bestatter mit der Abholung des Arms beauftragt?«
Einer der Männer verneinte das, und Larsson beauftragte Andresen, einen Leichenwagen zu bestellen. Dann wählte er die Nummer der Einsatzleitung, schilderte kurz den Fall und forderte die Taucher an, um nach dem Resttorso suchen zu lassen. Als er sich umdrehte, sah er den alten T4 der Spurensicherung kommen.
»Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt«, begrüßte er Paul Maier, der diese Redensart Larssons kannte und der den Satz vollendete: »Der weite Weg, Graf Isolan … ich weiß, Lasse, aber es ist heute schon unser zweiter Einsatz.«
»Warum fahren Sie eigentlich mit dem wunderschönen Boot in diesem versotteten Wasser, Herr Dollinger?«, fragte Larsson über den Usedomer See blickend mit einem Lächeln.
»Es ist kein Wunder, dass der See bei dieser Wärme blüht. Wir vermuten hier noch einige abgesoffene, alte Schiffe tauchen hin und wieder danach.«
Larsson sah die Sauerstoffflaschen für die Tauchgeräte und zwei Angeln. »Ich wette«, sagte er, »dafür gibt es sicher auch einen Verein. Für was gibt es eigentlich in Deutschland keinen Verein?« Aus den Augenwinkeln heraus sah er, wie Maier den gefundenen Arm in Augenschein nahm und seine Arbeit begann.
Dollinger hob die Schultern und sagte: »Nicht der Verein ist das Wichtige, das Wichtige ist, dass wir ab und an etwas sicherstellen können, was der Nachwelt sonst verloren geht.«
»Wann genau haben Sie den Arm gefunden?«
»Wir waren sehr zeitig unterwegs. Ich denke, es war kurz nach sieben.«
»Wer außer Ihnen hat den Fund gesehen?«, fragte Andresen, der inzwischen den Abtransport des Armes zur Rechtsmedizin nach Greifswald organisiert hatte.
»Niemand. Wir beide waren allein. Um diese Zeit frühstücken die meisten noch«, sagte Dollinger.
»Um die Uhrzeit … noch ganz allein? Bei diesem Wetter?«, warf Andresen zweifelnd ein.
»Jedenfalls hier in dieser Ecke. Ich weiß nur, als wir den Arm herausfischten, dass eines der Fischerboote hinaus ins Stettiner Haff gefahren ist. Aber die haben sich nicht um uns gekümmert. Und wir haben uns auch nicht um andere gekümmert.«
Larsson schaute auf das junge Mädchen in ihrem äußerst knappen Bikini. Sie passt nicht ganz zum Alter des Mannes, dachte er, hütete sich aber, etwas zu sagen. Es wird zu allen Zeiten so gewesen, dachte er, dass die jungen Dinger sich einen Kerl suchen, von dem sie glauben, er könne ihre Nachzucht ernähren. Aber dann stellte er für sich fest, dass mit zunehmender Kapitalisierung die Auswahlkriterien härter geworden waren.
»Der See ist wohl nicht besonders tief«, sagte Larsson zu Dollinger.
»Ist er nicht«, bestätigte er. »Deshalb ist es auch so eine trübe Brühe. Man kann nur mit einem sehr flach gehenden Boot hier ungestraft fahren. Sonst hat man sich im Nu die Schraube abgeschert. Und das ist der ganze Spaß gar nicht wert!«
Larsson prüfte, was einer der Beamten des Streifenwagens aufgenommen hatte. »Haben Sie nicht Bedenken, einmal einer Leiche in dieser trüben Brühe zu begegnen«, fragte er Dollinger.
»Der Tod ist ein Teil des Lebens.« Dollinger lächelte überlegen. »In meiner Zeit als Oberst-Arzt bei der Bundeswehr ist mir so manche Leiche begegnet. Speziell im Auslandseinsatz.«
»Sie waren in Afghanistan?«, warf Andresen ein.
»Auch. Zuerst im Kosovo. Später auch in Afghanistan.«
»Das Leben ist ein ständiges Kommen und Gehen«, sagte Larsson lapidar.
»Du solltest dir etwas überziehen, Angela«, sagte Dollinger zu dem jungen Mädchen im Boot. »Sonst holst du dir noch einen Sonnenbrand.«
Noch während sie über die Möglichkeit diskutierten, in diesem See auf ein weiteres altes, hölzernes Wrack eines Boots aus der Wikingerzeit zu stoßen, kam ein Halbgruppenwagen der Polizei mit mehreren Insassen angefahren.
Langsam kommt die Ermittlungskette in Gang, dachte Larsson, während er dem Wagen entgegenging.
»Ich nehme an, einer von Ihnen ist Kriminalhauptkommissar Larsson«, sagte ein Mann mittleren Alters.
Larsson war nun an den Kleinbus herangetreten und sagte: »Ich bin Larsson, Lasse Larsson. Gehören Sie zu der Taucherstaffel, die ich angefordert habe?«
»Kurt Salomon, ich leite die Truppe«, stellte der Mann sich vor und gab Larsson die Hand. »Wir sind eigentlich nur die Vorhut. Vielleicht können wir schon ein wenig anfangen, denn das Taucherbasiskraftfahrzeug ist nicht ganz so schnell wie wir. Aber wir brauchen den Wagen, weil damit die gesamte Ausrüstung gebracht wird, einschließlich der Möglichkeit, die Flaschen nachzufüllen.« Und mit einem Blick auf den blühenden See sagte er: »Das wird mächtigen Spaß machen, in diesem Dreck zu tauchen.«
Nur wenig später tauchte der dunkelgraue Leichenwagen einer Wolgaster Beerdigungsfirma auf und quälte sich durch eine Traube neugieriger Menschen.
Larsson sagte zu den Beamten des Streifenwagens: »Sie müssen die Zufahrt besser sichern. Es kann nicht sein, dass unsere Leute bei ihrer Arbeit behindert werden.« Er wandte sich an die beiden Männer des Leichenwagens und wies sie an, sich mit Maier zu arrangieren. Eine Dreiviertelstunde später, nachdem die Spurensicherung den Arm freigegeben hatte, fuhren sie in die Rechtsmedizin nach Greifswald.
Der Fahrer des Halbgruppenwagens rangierte das Fahrzeug so, dass er dem nachfolgenden Wagen der Tauchergruppe nicht im Weg stehen würde. Die Männer waren ausgestiegen und besprachen sich, wie sie den See systematisch absuchen würden. Schließlich maß er zweieinhalb mal gut zwei Kilometer. Sie einigten sich darauf, zuerst den Zugang zum Stettiner Haff abzusuchen und dann in Quadrate aufgeteilt den Rest des Sees.
Salomon zeichnete mit einem Aststück das Aufteilungsgitter mit den Quadraten in den Sand.
Sie wurden aufgeschreckt, als sie das Brummen eines Lastwagens hörten. Ein grüner Mercedes mit Kofferaufbau und einem großen einachsigen Anhänger wurde sichtbar, das verspätete Fahrzeug der Tauchergruppe. Es dauerte eine halbe Stunde, dann war das Fahrzeug ausgeladen, und die Taucher konnten endlich ihre Arbeit beginnen. Während die ersten Männer ins Wasser stiegen, um den Zugang zum Haff abzusuchen, telefonierte Larsson mit dem Institut für Rechtsmedizin in Greifswald.
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