Larsson bedankte sich. Dann fuhr er zum Büro zurück.
Dort angekommen, stellte er fest, dass er das Fenster am Morgen offengelassen und die Jalousien nicht heruntergelassen hatte. Es war brütend heiß in dem Raum. Wütend auf sich selbst holte er das jetzt nach und öffnete die Bürotür, so weit es ging. Dann ging er hinüber ins Büro der Kommissare, wo Simons gerade telefonierte.
»Es wurde gerade wieder ein Mädchen vermisst gemeldet«, sagte Simons, als er das Gespräch beendet hatte.
»Wo?«
»In Ahlbeck. Das Mädchen ist seit Freitag überfällig. Die Frau war heute Morgen in der Wache und hat die Anzeige dort aufgegeben.«
Ohne direkt darauf einzugehen, sagte Larsson: »Überprüfe bitte mal, wie viele junge Mädchen auf der Insel offiziell vermisst werden.«
»In welcher Zeit?«
»Im letzten halben Jahr.«
Simons rief im Polizeicomputer die Vermisstenliste auf und Larsson dachte darüber nach, ob es ein Zufall war, dass gerade jetzt ein weiteres Mädchen abging.
»Wir haben derzeit vier weibliche Vermisste, inklusive Liisa Schröder«, stellte Simons fest.
»In welcher Zeit?«
»Du sagtest, im letzten halben Jahr. Aber genau gesehen sind drei der jungen Mädchen erst in den letzten Wochen verschwunden.«
»Seit es die Brände im Süden der Insel gibt?«, fragte Larsson.
»Ja.«
»Genau das habe ich befürchtet«, sagte Larsson.
»Wenn du mich fragst, die Brände haben etwas mit dem Verschwinden der Mädchen zu tun«, sagte Simons.
»Vielleicht.«
»Dann wären die Brände von ein und demselben Täter gelegt worden«, stellte Simons fest. »Und wenn das für die Brände zutrifft, dann müsste es zwangsläufig auch für die verschwundenen Mädchen zutreffen. Du weißt, was du damit sagst, Lasse.«
»Ich sagte vielleicht. Möglicherweise ist das so. Behalte es einfach noch für dich, Karl. Ich muss noch einiges nachprüfen, bevor ich mich festlegen kann. Ruf die Frau an, sage ihr, dass wir in einer halben Stunde kommen, um mit ihr zu reden.« An der Tür drehte er sich Larsson noch einmal um. »Und wann ist das vierte Mädchen verschwunden?«
»Lange Zeit vor dem ersten Brand. Im Frühjahr.«
Larsson ging wieder über den Flur zu seinem Büro. Obwohl die Tür offen gestanden hatte, war es immer noch unerträglich heiß. Er hängte sein Sakko über den Stuhl, schloss die obere Schublade seines Schreibtischs auf und nahm seine Aufzeichnungen und die Kopie des Bekennerbriefs heraus. Sorgsam las er noch einmal die Nachricht: Brucia in coloro che non hanno alcun affare qui! E ascoltare coloro che non vogliono sentirsi! Es brennt bei denen, die hier nichts zu suchen haben! Und jene, die nicht hören wollen, müssen fühlen . Es war keine rechte Gesinnung daraus abzuleiten, obwohl er das durchaus für möglich hielt. Dennoch fragte er sich, ob deutschnationale Kader ihre Warnungen in italienischer Sprache schreiben würden. Wohl kaum. Nun war es nötig, das soziale Umfeld der verschwundenen Mädchen zu analysieren. Wer, wie, was, wo, wann, warum – das waren die sechs Standardfragen und nun käme die siebente dazu: mit wem?
Doch dann schweiften seine Gedanken ab, und er begann im Polizeicomputer nach den letzten größeren Bränden zu recherchieren. Die letzte große Brandserie auf der Insel lag erst zwei Jahre zurück. Damals hatten drei Jugendliche über Monate hinweg insgesamt vierzehn Mal Feuer gelegt. Und zuvor hatte das Landgericht Stralsund 1993 einen siebenundzwanzigjährigen Mann aus Heringsdorf zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, weil der ebenfalls über Monate hinweg auf Usedom vierzehn Brände gelegt und dabei einen Schaden von 1,2 Millionen Mark verursacht hatte.
Simons kam herein. »Wir können jetzt zu Frau Koch nach Ahlbeck fahren«, sagte er. »Sie war sehr aufgeregt.«
»Wärst du nicht aufgeregt, wenn dein Kind verschwinden würde?«, fragte Larsson. Wie immer, wenn er ging, packte er seine Aufzeichnungen in die oberste Schublade seines Schreibtischs und verschloss diese. Dann gingen die beiden Männer hinunter in den Hof der Dienststelle und stiegen in ihren Wagen.
In Ahlbeck fuhren sie langsam die Seestraße entlang. Sie überquerten die Kaiserstraße. Links lag das Hotel Meereswelle.
»Zu welcher Hausnummer müssen wir?«, fragte Larsson.
»Dreizehn.«
»Das Hotel hat die Nummer elf.«
Vor der Staatsbuchhandlung Krüger hielt Simons an. »Das hier ist die Neunzehn«, sagte er. »Da kenne sich einer aus.«
»Fahr da rüber … direkt an der Ecke Goethestraße, siehst du, dort ist die Dreizehn.«
Simons parkte den Dienstwagen direkt vor dem Haus, obwohl es eigentlich nicht erlaubt war.
Larsson las das Klingelschild. »Hainsfeld. Wir haben auf der Wache einen Hainsfeld …«, stellte er fest.
»Ich weiß nur, dass er hier in Ahlbeck wohnt«, sagte Simons.
Über dem Namen des Kollegen fand Larsson den Namen Koch und drückte auf den Klingelknopf. Wenig später standen die beiden Kommissare vor dem Eingang der Wohnung und wurden bereitwillig hereingelassen.
»Ich weiß nicht, was sich das Mädchen denkt«, sagte die Frau aufgeregt, während sie die beiden Männer im Wohnzimmer einen Platz anbot.
Larsson taxierte Sibylle Koch, wie er es immer zu tun pflegte, wenn er bei einem ersten Gespräch das Umfeld einer möglichen Straftat einschätzen musste. Sie war eine Frau Anfang vierzig. Sie machte einen soliden Eindruck, ebenso die Wohnung, alles gutbürgerlich und gepflegt.
»Hatten Sie schon mal Schwierigkeiten damit, dass Ihre Tochter unangemeldet fernblieb?«, fragte Larsson.
»Noch nie. Chantal ist das, was man eine Traumtochter nennt. Freundlich, aufmerksam und eher eine gute Freundin als eine Tochter.«
»Das ist eine etwas eigenwillige Interpretation«, stellte Larsson fest. »Eher eine gute Freundin als eine Tochter?«
»Natürlich ist sie in erster Linie eine gute Tochter. Aber weil sie so wenig Probleme macht, beziehungsweise überhaupt keine, und ich alles mit ihr besprechen kann, ist sie eben auch eine sehr gute Freundin.«
»Sie ist also noch nie nachts weggeblieben?«
»Doch. Aber das war abgesprochen. Sie blieb dann bei den Bachs über Nacht.«
»Und der Vater von Chantal?«, ließ Simon sich vernehmen.
»Sie hat keinen Vater mehr. Mein Mann ist vor zwei Jahren an einem Krebsleiden gestorben. Wir beide leben allein. Chantal hat noch eine Großmutter, die Mutter ihres Vaters, Oma Friederike, die in einem kleinen Ort in Thüringen wohnt. Aber da ist sie nur einmal im Jahr hingefahren, immer in den großen Ferien für eine Woche. Und an Weihnachten war Oma Friederike jedes Jahr bei uns.«
»Wir würden uns gern das Zimmer von Chantal ansehen«, sagte Simons.
»Sie können gern allein hinein gehen. Im Gang, die letzte Tür rechts«, sagte die Frau und schaute Simons dabei an. »Chantal hat das einzige Zimmer, von dem man auf die Seebrücke sehen kann.«
Larsson nickte Simons zu, der stand auf und ging zum Zimmer des Mädchens.
»Bei den Bachs hat Ihre Tochter übernachtet?«, knüpfte Larsson das Gespräch wieder an.
»Ja. Manchmal rief sie nur kurz an und sagte mir, dass sie dortbleiben wollte.«
»Auch am letzten Freitag?«
»Ja. Gleich morgens rief sie mich aus der Schule von ihrem Handy an. Und ich hatte natürlich nichts dagegen.«
»War das so üblich?«
»Seit kurzer Zeit schon.«
»Und das hat Sie nicht beunruhigt?«
»Nein.«
»Und deshalb haben Sie sie erst heute als vermisst gemeldet?«
»Genau. Sie rief zwischendurch nicht an, wie sie es sonst getan hat.«
»Ich brauche eine Aufstellung von Chantals Freunden, von allen, mit denen sie Kontakt hatte. Das betrifft die Schule, aber das betrifft auch zum Beispiel ihre beste Freundin«, sagte Larsson.
»Gleich?«
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