Metú nimmt sie vorsichtig auf, er trägt sie aus dem Raum. Auch die Männer, die vor dem Haus bei den Pferden stehen, erschrecken, sie ist ein erbarmungswürdiger Anblick. Er legt sie auf der Rückseite des Wagens auf ein paar Heusäcken ab, sie rollt sich zusammen. Ihr Kleid ist nur noch ein Fetzen, es bedeckt ihre Blöße kaum, sie sehen die Spuren der Tritte und Schläge nur zu deutlich. Und auch das Blut auf ihren Schenkeln, sie wissen, was es bedeutet, viele von ihnen haben Frauen und Töchter zuhause. Als ob sie nicht schon genug Schmerzen leidet. Sie reagiert nicht, nicht auf Metús leise Stimme, als er sie mit ihrem Namen anspricht, Mirini, nicht auf seine sanfte Berührung, als er ihr das verfilzte Haar aus der Stirn streicht. Zwei Narben sind darauf zu sehen, sie überkreuzen sich, so wie es der Sohn des Heermeisters Metú gesagt hat. Er zieht etwas aus der Tasche, ein kleines geschnitztes Holzpferd mit einer Öse auf dem Rücken, durch die ein gelbrotes Band gezogen ist. Er hält es ihr hin, vielleicht erinnert sie sich daran, vielleicht bringt es das Leben zurück in ihre Augen. Sie greift danach, sie schließt ihre Hand darum und legt ihre kleine Faust an ihre Wange, und was sie dann tut, bricht den Männern das Herz. Sie liegt vor ihnen, abgemagert, halb verhungert, zerschlagen, wie eine zerbrochene Puppe. Und sie summt ein Schlaflied für ein kleines Kind. Einer der Männer hüllt sie sanft in eine der Schlafdecken, sie beratschlagen, was als nächstes zu tun ist. Sie müssen sie wegbringen von hier, irgendwohin, wo sich ein Arzt um sie kümmert, wo sie Pflege hat, wo sie das Schreckliche vergessen kann, das ihr widerfahren ist. Wenn sie es noch kann, sie summt immer noch leise, aber es ist kein Leben in ihren Augen. Wie sollen sie sie dazu bringen zu essen, kauen wird sie nicht können mit ihrem zerschlagenen Mund. Einer der Männer schlägt es vor, Honigwasser. Das hat ihre Mutter ihnen gegeben, wenn sie krank waren, wenn sie Fieber hatten, es löscht den Durst, und Honig nährt. Sie haben noch einen halben Krug davon, sie süßen ihren Tee damit, aber der schmeckt auch ohne Honig. Sie versuchen es, Metú hält ihr den Becher an die Lippen, es braucht einen Moment, bis sie versteht, aber dann schluckt sie. Einmal, noch einmal, ein drittes Mal, Melak sei Dank. Ein wenig Wasser, ein winziges bisschen Nahrung, aber es ist ein Anfang.
Einen halben Tagesritt entfernt treffen sie auf ein Haus der weißen Schwestern, sie sind noch nicht ganz eingerichtet, aber sie nehmen sich ihrer an. Sie baden sie und versorgen ihre Wunden, sie sind nicht gefährlich, nur Schürfungen von den Tritten, dunkle Flecken von den Schlägen, ein paar Schnitte an den Füßen, sie scheint in Scherben getreten zu sein. Die Entflammung an ihrem Finger rührt daher, dass Schmutz in die Wunde geraten ist, die der eingerissene Nagel verursacht hat, sie säubern sie, ein Verband mit Kräutersalbe wird helfen. Striemen auf dem Rücken und den Oberarmen von einer Reitgerte, manche davon sind schon alt, sie werden heilen. Sie scheren ihren Kopf, ihr Haar ist verfilzt und sie finden Larven von Beißfliegen darin, auch noch ein paar in der Haut, sie behandeln sie mit einer Kräutertinktur, es wird bald ein Ende haben damit und ihr Haar wird nachwachsen. Ihr rechter Arm ist einmal gebrochen gewesen, der Bruch ist nicht gerichtet worden, man sieht, dass er schief zusammengewachsen ist, und die oberen beiden Glieder des kleinen Fingers ihrer linken Hand fehlen. Der Stumpf ist nicht gut versorgt worden, aber dagegen können sie nichts tun. Das können nur die Ärzte des Thain. Die Madroni des Hauses spricht mit Metú, sie haben für sie getan, was sie konnten. Aber etwas macht ihr Sorgen, sie nimmt keine Nahrung an. Sie versuchen es mit Tee mit Honig und dem dünnen Brei aus Getreide und Früchten, den sie Säuglingen geben, wenn ihre Mütter nicht genug Milch für sie haben. Sie schluckt, wenn etwas ihren Mund berührt, sie wird nicht verhungern damit, aber es gibt ihr keine Kraft. Und die braucht sie, um sich zu erholen von der Tortur, die sie hat erleiden müssen. Sie hält immer noch das kleine Holzpferd umklammert, sie wimmert, wenn sie es ihr wegnehmen, sie summt, wenn sie es ihr zurückgeben. Es hört sich an wie ein Schlaflied, es scheint das Einzige zu sein, das sie noch im Leben hält. Und ihre Augen sind immer noch leer.
Metú schickt einen Boten zu Tenaro, sie ist gefunden, aber es geht ihr schlecht, und es wundert ihn nicht, als er ein Drittteil später die Standarte des Nun’thain auf der Straße vor dem Haus der Schwestern erblickt. Er steht neben ihm an ihrem Bett, als er mit zusammengebissenen Zähnen auf sie schaut, er kann sie kaum ertragen, diese leeren Augen. Er setzt sich zu ihr, die Finger seiner rechten Hand streichen sanft über ihre Wange. „Komm zu mir zurück, An’tla, bitte komm zu mir zurück.“ Aber sie reagiert nicht, ihre Augen bleiben leer. Metú läuft ein Schauer über den Rücken, als Tenaro sich erhebt, er leidet entsetzlich unter ihrem Zustand. Und er sieht es an seinen Augen, es gibt ein paar Menschen, die bald noch viel mehr leiden werden.
Der Heermeister und die Männer seines Haushalts sind seinem Zugriff entzogen, er selbst hat sie der Gerichtsbarkeit der Krone überstellt. Sein Vater hat sie schon verurteilt, zu Zwangsarbeit in den Salzminen von Beth’nindra, der Heermeister ist mitsamt seinen Söhnen und den beiden Männern, die mit seinen Töchtern verheiratet waren, schon dorthin gebracht worden. Sein ältester Sohn, Romar, ist tot, er hat die Fahrt zum Gericht des Thain nicht überlebt. Die Männer hat es vor Grauen geschüttelt, als sie ihn vom Block genommen haben, sie haben sich angesehen, sie sind froh, dass der große Mek’ta auf ihrer Seite steht. Zum Feind möchten sie ihn wahrhaftig nicht haben. Die Frauen aus dem Haushalt des Heermeisters haben sich geweigert, das Haus zu verlassen, Tenaro hat nur mit den Schultern gezuckt, er wird sie nicht an den Haaren herausschleifen lassen. Den Fürsten und seine Familie hat er trotzdem bei ihnen einquartiert, es ist ein wenig überfüllt, aber jetzt haben sie die Zofen und Dienstmägde, die Bücher und Abtritte, nach denen sie gejammert haben.
Eine Hundertschaft Reiterei wird in den Norden geschickt, sie wird sich um die Oase der weißen Schwestern kümmern und den Pferdehändler und seine Familie. Die Mauer aus Echsenpanzern wird geschleift, das Haus der Schwestern eingerissen, nur der Altar des Melak bleibt unangetastet. Er ist wie die Statue aus weißem Stein gehauen, er wird über die Oase wachen, sie steht jetzt jedem offen. Der Inhalt der übervollen Truhen unter dem Bett der Madroni wird an die Häuser der Schwestern in den Bezirken von Narn’kalar verteilt, sie werden viel Gutes damit tun. Die Frauen werden vor Gericht gestellt, der Handel mit Menschen ist in Beth’anu ein Vergehen, das der Gerichtsbarkeit der Krone unterliegt. Niemand hat das Recht, einen anderen Menschen zu besitzen, sie sind keine Ware, mit der gehandelt wird, es gibt keine Menschen in Beth’anu, die einem anderen gehören. Sie werden den Rest ihres Lebens unter Bewachung in einem Haus im Norden von Beth’draket verbringen und Wolle und Stoffe färben. Sie haben sich in weiße Gewänder gehüllt zu Ehren Melaks, es ist eine Farbe, die ihnen nicht mehr zusteht.
Auch die Oase des Pferdehändlers steht jetzt jedem offen, es hat wenig Überlebende gegeben. Sie haben die Soldaten angegriffen, mit Schwertern und Dolchen, die Männer, die Frauen, selbst die Kinder. Der Pferdehändler ist mit dem Rest seiner Familie in die Wüste geflohen, sie haben sie nicht verfolgt. Dort gibt es nichts mehr, sie werden elendig umkommen, aber sie haben ihr Schicksal selbst gewählt. Die großen Pferde haben sie mit sich genommen, und sie haben die Bewohner der anderen Oasen vor ihnen gewarnt. Sie haben wenig Hilfe zu erwarten, und auch das Wasser der weißen Schwestern wird nicht unbewacht sein. Die Oase des Pferdehändlers wird nicht unbewohnt bleiben, der Nun’thain wird das Recht auf das Wasser an jemand anderen geben, sie ist die letzte Bastion gegen die Ödnis der Wüste, die letzte der Perlen auf der Schnur, die sie in der Wüste bilden. Danach kommt nichts mehr, nur Sand und Geröll, und wenn es noch etwas gibt dahinter, liegt es zu weit entfernt, um es gefahrlos zu erreichen. Es gibt eine Legende in Narn’kalar, die erzählt wird seit vielen Jahren, dass sehr weit entfernt, fast am anderen Ende der Wüste, große Tiere leben, größer als jedes Pferd, mit langen Hälsen und einem Buckel auf dem Rücken, und Hufen groß wie Teller, mit denen sie über den Sand laufen können. Geritten von großen Männern, größer als die Menschen von Narn’kalar, die ihre Köpfe mit Tüchern verhüllen, auch ihre Gesichter, mit Augen grau wie der Stein des Drat’kalar. Sie sollen früher ab und zu durch die Wüste gekommen sein, um Handel zu treiben mit den Bewohnern der Oasen, aber sie sind schon seit Menschengedenken nicht mehr gesehen worden, die Tiere nicht, die Männer, die auf ihnen reiten, nicht. Sie sind zu einer Legende geworden, zu einer Geschichte, mit der man kleine Kinder erschreckt, so wie die Demoni, die in einer Hölle östlich von ihnen leben, in grünem Wasser.
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