1 ...6 7 8 10 11 12 ...35 „Entschuldigung?“, sprach Marie die Dame an, die dahinter stand, „Wissen sie, wann
der Flieger nach Iria geht?“ Die Augen in dem Gesicht mit den sympathischen Zügen
weiteten sich. „Wohin?“, fragte die junge Frau, „Iria?“ Marie wurde etwas
unbehaglich zumute. Warum hatte Jonas sie nicht einfach abholen können, so wie
letztes Mal? „Ja.“, versuchte sie zu erklären, „So weit ich weiß, geht heute ein
Sonderflug zu einem Ort namens Iria.“ Die Frau runzelte zwar überrascht die Stirn,
machte sich aber immerhin die Mühe, den Namen in ihr Suchprogramm einzugeben.
Dann rief sie überrascht auf. „Tatsächlich.“, sagte sie und sah Marie freundlich an,
„Das habe ich gar nicht gewusst. Euer Flug geht in einer halben Stunde von Terminal
2, Gate 1,3.“ „Dankeschön.“, verabschiedete sich Marie und zog Leo mit sich. Dieser
wehrte sich und riss sich schließlich los. „Was soll das denn?“, blaffte er, „Gate 1,3?
Will die uns verarschen?“ Marie zuckte mit den Schultern. „Ist doch möglich, dass es
für den Iria-Flieger ein extra Gate gibt, das normalerweise nicht mit dazugehört. Aber
das muss irgendwo hier ausgeschildert sein.“ Suchend schaute sie sich um. Dann
stieß sie einen triumphierenden Pfiff aus und deutete auf ein Schild über ihnen. „Das
war vor zwei Wochen noch nicht da.“, maulte Leo und beeilte sich, mit Marie Schritt
zu halten. Die Kleine heizte ihm ganz schön ein. Noch dazu kam, dass sie ihm
einfach ihre fette Tasche um die Schulter gehängt hatte, die er nun schleppen musste.
Sie brauchte sich nur noch um den kleinen Rollkoffer zu kümmern. Das nächste Mal
würde er ihr seine Hilfe nicht mehr anbieten. „Das haben sie da bestimmt extra
aufgehängt.“, äußerte Marie ihre Vermutung in Bezug auf das Schild. Doch das
Reden hielt sie keineswegs davon ab, zu gehen. Ganz im Gegenteil: Während sie
sprach, steigerte sie ihr Tempo noch, bis sie schließlich fast rannte. „Jetzt warte doch
mal!“, rief Leo ihr verärgert schnaufend hinterher. Als er sie endlich eingeholt hatte,
meinte er: „Mein Vater hätte uns auch sonst mit dem Privatjet meines Opas dahin
fliegen können. Dann hätten wir uns diese ganze Hetzerei erspart. Aber du wolltest ja
nicht.“ Marie lachte verschmitzt. „Für wie blöd hältst du mich eigentlich?“, fragte
sie, während sie im Slalom durch die Absperrungen kurvte. „Ich weiß doch ganz
genau, dass nicht jeder x-beliebige Pilot einfach so nach Iria fliegen kann. Das ist auf
keiner einzigen Karte eingezeichnet, schon vergessen? Und nur Irianer, die eine
entsprechende Ausbildung gemacht haben, wissen, wie man dort hin und wieder
zurückkommt.“ Leo schnaufte. Nach fünf Minuten waren sie bei Gate 1,3
angekommen. Völlig verschwitzt und außer Atem. Im Vergleich zu der überfüllten
Halle war der Bereich hier geradezu leer. Nur hin und wieder beobachteten sie ein
paar Leute in ihrem Alter, genauso bepackt wie sie, die sich gerade von ihrer Familie
verabschiedeten oder sich auf ihren Handys herumtippend die Zeit vertrieben. Beim
Stichwort Handy fiel Leo wieder ein, dass Handys in Iria tabu waren. Er würde
seines schon hier im Flughafen abgeben müssen. Dies war die letzte Gelegenheit, um
noch einmal seine WhatsApps zu checken. Eine Sekunde später wünschte er, er hätte
es nicht getan. Seine kleine Schwester Sarah-Annabell, die als Einzige aus ihrer
Familie von dem peinlichen Status, den man erstellen konnte, Gebrauch machte,
hatte jedes einzelne ihrer Beautyprodukte abfotografiert, die Fotos zusammengefügt
und sie kommentiert. Er wusste, dass es nicht ratsam war, sich das jetzt anzugucken.
Nach dem Gerenne würde ihm das den letzten Atem rauben. Marie hatte alles
mitbekommen. Grinsend schaute sie auf sein Display. „Na? Willst du nicht die Tipps
und Tricks deiner Schwester durchforsten? Wer weiß, vielleicht hat sie eine gute Idee,
wie du deine Pickel loswirst.“, feixte sie, woraufhin Leo ihr einen Knuff in die Seite
versetzte. Dann erzählte er ihr düster von der abendlichen Prozedur, die seit neustem
in ihrem Hause stattfand. Seit Sarah-Annabell mit ihren gerade mal neun Jahren
durch den Sexualunterricht in der Schule auf den Trichter gekommen war, dass sie
sich vielleicht schon in der Pubertät befand, hatte sie angefangen, ihr gesamtes
Zimmer umzuräumen und ihre Mode umzustellen. Aus ihrem quietschrosa
Prinzessinnenschloss war eine ebenso grässliche Beautyhöhle geworden, in der sie
nach dem Abendbrot immer verschwand, um darauf mit einem durch eine
Schneckenschleimmaske verunstaltetem Gesicht wiederzukommen. Als Leo seiner
Freundin das erzählte, musste sie lachen. Dann machte sie ihn auf die anderen
Jugendlichen aufmerksam. „Was meinst du?“, fragte sie, „Ob die wohl auch in Iria
zur Schule gehen?“ „Bestimmt.“, antwortete Leo, „Guck sie dir doch an. Die sind
genauso wenig motiviert wie du und ich.“ Erst in diesem Moment fiel ihm auf, was
er da gerade gesagt hatte und er fügte korrigierend hinzu: „Ich meine: nur wie ich. Du
brennst ja richtig auf Unterricht.“ „Gar nicht wahr.“, protestierte Marie beleidigt. Und
um wieder vom Thema abzulenken, meinte sie: „Den Jungen da vorne habe ich schon
mal in Sinistro gesehen. Willst du dich nicht mit ihm über Bibelkicker unterhalten?“
Leo sah Marie mit einem Gesichtsausdruck an, als hätte sie ihn gefragt, ob er denn
nicht Lust hätte, sich einen Pudel mit pinken Haaren zu kaufen. „Wieso sollte ich?“,
fragte er und kniff die Augen zusammen, „Ich kenne den Typen nicht.“ Marie
stöhnte. Typisch. Bloß nicht zu aufgeschlossen sein. Der Miesepeter Leo würde ihr
mit seiner pessimistischen Art noch den ganzen Flug über auf die Nerven gehen.
Doch dann fiel ihr etwas auf, das ihre Laune noch immens verschlechterte. Auf
einmal erschien auf der digitalen Fluganzeige ein roter Text, der besagte, dass der
Iria-Flieger mit mindestens einer Stunde Verspätung abfliegen würde. Sie stöhnte.
Die nächsten paar Stunden sah man zwei dutzend Schüler, die sich lustlos auf die
gepolsterten Wartesitze rund um das Gate verteilt hatten und gedankenverloren auf
ihr Flugzeug warteten. Leo schaute sich bei YouTube ein Katastrophenvideo nach
dem anderen an, allerdings nur so lange, bis sich Marie über den Lärm beschwerte
und ihn fragte, was so toll daran sei, Menschen leiden und sterben zu sehen. Seine
aufgebrachte Antwort war: „Darum geht es doch gar nicht! Die versuchen
aufzuklären, wie die Unfälle passieren konnten und wie man sich davor schützen
kann!“ Und mit einem abschätzigen Blick auf Marie fügte er hinzu: „Und das, was
ich mache ist allemal besser, als einen historischen Roman auf Englisch zu lesen. Das
Mittelalter, ich bitte dich! Da weiß ja sogar ich alles drüber, was man wissen muss.
Wozu braucht man also noch Bücher?“ „Ach ja?“, skeptisch zog Marie ihre Augen zu
Schlitzen zusammen, „Und das wäre?“ „Machtmissbrauch, Krankheit, Krieg,
Aberglaube. Also Mord und Totschlag.“ „Ist doch gar nicht wahr!“, maulte Marie,
„Natürlich war das Mittelalter ein dunkles Zeitalter, aber wusstest du zum Beispiel,
dass es auch schon damals Leute gab, die sich für Freiheit eingesetzt haben? Sie sind
von Dorf zu Dorf gezogen und haben den Menschen Lesen und Schreiben
beigebracht, damit sie die Bibel und andere damals wichtige Schriften selbst lesen
konnten.“ „Und dann wurden sie geschnappt und nach einer hochnotpeinlichen
Befragung auf dem Scheiterhaufen verbrannt.“, führte Leo die Geschichte zu ende,
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