und sah nur noch sie. Sie, die dastand und trauerte. Er sog ihre gesamte Erscheinung
in sich auf, die hellen Haare, die zierliche Statue… und den Babybauch. Für einen
Moment zog sich sein Herz schmerzvoll zusammen. Dann wandte er sich,
erschrocken über sich selbst, ab. Er stand direkt vor dem Sarg und starrte auf ein
schwarzes Tuch. Alles, was von Tilo übrig geblieben war.
„Gundula?“, Hedwigs laute Stimme tönte von einer Ecke ihres Zimmers in die
andere. Marie war weg, das bedeutete, dass sie endlich Gelegenheit hatte, ihre
Terminkalender-Beseitigungs-Aktion zu starten. Und anfangen wollte sie direkt bei
ihrem eigenen. Bei der lieben, alten Gundula. „Warst du eigentlich schon mal im
Urlaub?“, Hedwig rechnete nicht damit, eine Antwort zu erhalten, aber vielleicht
würde sie Gundula ja beruhigen können, indem sie ein wenig mit ihr sprach. Erst
gestern Nacht hatte sie einen genialen Geistesblitz gehabt: Sie würde die
Terminkalender einfach alle in den geheimen Raum unter ihrer Schule sperren!
Vorausgesetzt, sie würde es je schaffen, die 150 Stück bei lebendigem Leibe
einzufangen. Wie erwartet antwortete Gundula nicht. Stattdessen meckerte sie mit
hoher, monotoner Stimme: „Mittagessen ist um 13:30 Uhr.“ Dennoch kam sie auf
Hedwig zugeflattert und setzte sich vertrauensvoll auf ihren Arm. „Aber das weiß ich
doch.“, sagte Hedwig freundlich und seufzte. Was bin ich froh, dich Nervensäge bald
hinter Schloss und Riegel sperren zu können, dachte sie, während sie sich auf alle
Viere niederließ, um die unter ihrem Bett eingelassene Falltür beiseite zu schieben.
Sie schnaufte. Einfacher wäre es gewesen, das Bett woanders hinzustellen, aber sie
wollte um jeden Preis vermeiden, dass ihre Freundin Verdacht schöpfte sobald sie
zurückkam. Bis die Aktion gelaufen war, sollte Marie schön ihre Finger von dem
geheimen Raum lassen. Mit einem ekligen Ritsch sprang die Tür auf. Darunter
verbarg sich ein dunkles, schwarzes Loch. Hedwig rümpfe die Nase. Sie konnte
schon jetzt den Kellergeruch wahrnehmen. Modrig und feucht. Sie schnappte sich
eine Taschenlampe und stieg in den Gang hinab. Dabei war sie stets darauf bedacht,
Gundula nicht zu verlieren. Doch die saß ganz ruhig auf ihrem Arm und schien nicht
den leisesten Verdacht zu schöpfen. Unten angekommen, tappte Hedwig etwas
orientierungslos ein paar Schritte durchs Dunkel. Dann ging sie zielstrebig in eine
Richtung. Und spürte im nächsten Moment bereits, wie ihr linker Fuß in etwas
Weichem einsackte. Dazu schmatzte es. Hedwig fluchte. So ein Mist aber auch! Die
Schuhe hatte sie erst vor ein paar Wochen gekauft. Als sie mit dem schmalen
Lichtkegel der Taschenlampe die Umgebung absuchte, stellte sie grimmig fest, dass
sie genau richtig war. Sie stand direkt über der Falltür zum geheimen Raum. Und
genau wie beim ersten Mal war sie voll in die Pfütze darüber getreten. Jetzt
verlagerte sie ihr Gewicht auf das Bein, dessen Fuß im Matsch steckte und trat mit
dem anderen energisch gegen einen Stein. Sofort wurde der Schlamm in der Pfütze
weniger. Darunter erkannte sie die Falltür. Erleichtert, sich endlich wieder frei
bewegen zu können, beugte Hedwig sich hinunter und ritzte die geheimen Zeichen in
das Holz: Stern, Mond, Fisch, Bibel. Die Falltür sprang auf. Perfekt. Das einladende
Licht, das aus der Öffnung hervor strömte, weckte Hedwigs Vorfreude auf ein
Wiedersehen mit Finja und PiPo, den beiden Halbelfen, die sich um den Raum
kümmerten und dort wohnten. Sie hätte sie schon viel eher wieder besuchen sollen.
Flink überwand Hedwig die lange Strickleiter, die nach unten führte und fand sich
wenig später in dem goldenen Licht des über und über mit Büchern vollgestopften
Raumes wieder. Staunend betrachtete sie ihre Umgebung. Die goldene Decke, die
Regale, die rote Tapete mit dem Goldfaden. Erst jetzt merkte sie, wie sehr sie es
vermisst hatte. „Finja, Pi Po?“, noch während sie in Gedanken versunken war, rief sie
schon ihre Freunde. Aber niemand antwortete. Wahrscheinlich waren sie beschäftigt.
Gedankenverloren schlenderte Hedwig ein paar Schritte weiter. Und fand sich vor
einem merkwürdigem Geäst aus Namen wieder. Es zeigte die Besitzer des geheimen
Raums bis heute. Als sie so sehr in seine Betrachtung versunken dastand, musste sie
plötzlich an Marie denken. Die hätte hier bestimmt stundenlang vorstehen und die
Namen in sich aufsaugen können. Hedwig lachte laut auf. Dann wandte sie ihren
Blick den Linien auf der Tapete zu. Sie folgte ihnen und versuchte angestrengt,
irgendein Muster auszumachen. Doch es gelang ihr nicht. Immer wieder und wieder
verstrickte sie sich in den komplizierten Verzweigungen und Schlangenlinien, bis sie
es schließlich aufgab. Nachdem sie noch eine Weile gewartet hatte, stellte sie
enttäuscht fest, dass Finja und PiPo wohl nicht mehr kommen würden. Noch bevor
sie ihren ersten Fuß auf die Strickleiter setzten konnte, sog sie scharf Luft ein.
Beinahe hätte sie vergessen, Gundula hier abzusetzen! Sachte nahm sie den
Terminkalender von ihrem Arm und setzte ihn auf eins der Regale. „Ich bin gleich
wieder da, Gundula.“, sagte sie und versuchte, ihre Stimme so sanft wie möglich
klingen zu lassen. Sie kam sich vor, als rede sie mit einer todkranken, verwirrten
alten Frau. Da fiel ihr Blick auf ein Wort. Opfer. Dort prangte es. Ihr gegenüber.
Direkt auf der Wand. Mit fetten, goldenen Buchstaben. Hedwigs Herz schlug
schneller und auf ihrer Stirn bildeten sich skeptische Falten. Was war das denn?
Warum schrieb hier jemand Opfer an die Wand? Sie schaute kurz weg und als sie
beim nächsten Mal auf die Wand blickte, war dort nichts mehr. Nur ein Gewirr aus
goldenen Linien. Hedwig schüttelte den Kopf. Wurde sie jetzt auch noch verrückt?
Sie beeilte sich, zur Leiter zurückzukommen. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen,
ohne sich umzudrehen nach oben zu klettern, aber wie erwartet machte ihr ihre
Neugier einen Strich durch die Rechnung. Sie drehte sich wieder in die Richtung der
Wand mit dem seltsamen Wort. Da sah sie es wieder. Klar und deutlich. Wie
gedruckt. Und mit einem mal fiel ihr auf, dass sie die Linien lesen konnte. Sie konnte
sie tatsächlich lesen! Das waren keine Muster, sondern eine Schrift! Aufgeregt
kletterte Hedwig nach oben und hievte sich zurück in den modrigen Gang, um ihren
Freunden von ihrer Entdeckung zu berichten. Nur Marie durfte sie nichts sagen.
Sonst kam die sicher auf die Idee, im geheimen Raum nachzuschauen. Und da war ja
jetzt Gundula.
Gerade hatte Hedwig sich wieder aufs Bett gesetzt, als die Zimmertür aufsprang.
Herein kam Marie. Grußlos steuerte sie auf ihr Bett zu und warf ihr Griechischbuch
darauf. „Na, wie war´s?“ Hedwig war froh, heute kein Hebräisch gehabt zu haben.
Frau Nalisa war krank, aber das hielt Professor Xynulaikaus natürlich nicht davon ab,
seinen Unterricht durchzuziehen. Als Antwort auf die Frage ihrer Freundin murmelte
Marie etwas. Dann schlug sie Buch und Heft auf und fing an, Hausaufgaben zu
machen. Nicht am Tisch, sondern auf dem Bett. Hedwig runzelte die Stirn. „Alles
okay mit dir?“, fragte sie und sah Marie prüfend an. Die stöhnte nur. „Alles bestens.“,
sagte sie dann. Hedwig schwieg. Da fiel ihr etwas ein. „Hey, ist die neue Schülerin
eigentlich schon da?“, fragte sie neugierig, „Sie wollte doch heute hier ankommen,
oder?“ „Hhm.“, machte Marie zustimmend. Hedwig verdrehte die Augen. So
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