Hoffentlich sagt er, dass sie jetzt fertig sind, dachte Jonas grimmig und schaute den
jungen Mann mit einer Mischung aus Erwartung und Vorwurf an. Er hatte wirklich
Besseres zu tun, als den ganzen Tag lang hier herumzustehen. Das Erste, was der
junge Mann sagte, war: „Vielen Dank!“ Seine nächsten Worte gingen schon längst in
aufgeregtem Jubelgeschrei und begeisterten Zugaberufen unter. „Oh nein.“, sagte
Jonas, mit den Nerven völlig am Ende, „Bloß keine Zugabe.“ Als sich die Menge
allmählich wieder beruhigt hatte, sagte der Sänger noch ein paar Sätze und setzte
dann zu Jonas Leidwesen tatsächlich zu einem weiteren Song an. „Nein!“, rief er so
laut er konnte, doch es hörte ihn keiner. Die Leute waren alle viel zu begeistert. Erst
als die ersten Lebensmittel flogen, wurde den Passanten, die Jonas Abneigung gegen
die Musik teilten, Gehör geschenkt. Verdutzt starrte er nach vorne. Über seinen Kopf
hinweg war gerade eine Tomate geflogen und mit einem ekligen Klatschen direkt vor
dem Mikrofon gelandet. Danach folgte ein Ei. Ein faules Ei, wie Jonas kurz darauf
naserümpfend feststellte. „Igitt!“ Er verzog das Gesicht und starrte die glibberige
Pfütze vor sich angewidert an. So etwas Fieses wäre nicht einmal ihm eingefallen.
Den beiden Geschossen folgten weitere, bis die Band sich schließlich unter einem
Pfeilregen aus Abfällen und kleineren Steinen wiederfand und irritiert aufhörte zu
spielen. Das alles war innerhalb von wenigen Sekunden passiert. Viel zu schnell.
Jetzt, wo die Musik aufgehört hatte, hörte man endlich die hasserfüllten Rufe, die
schon die ganze Zeit von den Klängen bedeckt über den Platz geschallt waren.
„Verschwindet ihr Mörder!“ „Macht euch vom Acker, ihr Elitesöhnchen!“ und:
„Verräter!“ Die Rufe schwollen allmählich zu einem einem hässlichen Sprechgesang
an. „Nordleute raus, Nordleute raus!“ Erschrocken hielt sich Jonas die Ohren zu.
Dann zuckte er zusammen und duckte sich. Um ein Haar hätte ihn ein großer Stein
am Kopf erwischt. Verwirrt sah er sich um und versuchte vergeblich, die Leute aus
der Masse auszumachen, die dieses Unheil stifteten. Doch es waren einfach zu viele.
Seinen Freunden und vielen anderen erging es ähnlich. Suchend wandten sie ihre
Köpfe umher und als sie nichts fanden, die Angreifer aber immer aggressiver wurden,
machte sich etwa die Hälfte der Zuhörer fluchtartig auf den Weg nach Hause. Die
Menschenmasse wurde zerstreut. Zurück blieben die nun mehr völlig verstörten
Bandmitglieder, die aggressive Meute und die eingefleischten Fans, die sich so eine
Behandlung auf keinen Fall gefallen lassen wollten. „Verschwindet doch, wenn euch
die Musik nicht gefällt!“ Hedwig hatte Jonas direkt ins Ohr geschrien. „Hört auf mit
dem Mist!“, das war Leo. Als Jonas wenig später einen Blick auf die Bühne warf, fiel
ihm auf, dass der Gitarrist von einem Stein am Ohr getroffen worden war und jetzt
stark blutete. Er wurde gestützt von seinen von oben bis unten mit Bioabfällen
beschmierten Kumpanen. Mitleidig verzog Jonas das Gesicht. Die Band versuchte,
sich aus dem Staub zu machen. Nur der Sänger wagte noch einen letzten Versuch, die
Situation zu entschärfen. Er trat ans Mikro und rief: „Wir wollten euch doch nur eine
Freude machen...“ Doch er hatte das Falsche gesagt. Wie in Zeitlupe sah Jonas mit
an, wie der Mann von der Bühne gezerrt wurde und in einem Haufen Randalierer
verschwand, während die Leute um sie herum anfingen, wie wild aufeinander
einzuprügeln. Jetzt endlich schienen auch seine Freunde zu begreifen, dass sie
schleunigst von hier verschwinden mussten. Doch es war zu spät. Schon wurden sie
in die Massenschlägerei mit hineingerissen. Von allen Seiten wurden sie angerempelt,
während sie verzweifelt versuchten, den Tritten und Schlägen auszuweichen, die auf
sie nieder gingen. Geduckt und ihren Kopf mit verschränkten Armen schützend
rannten sie durch die aufgebrachte Masse hindurch. Jonas war immer noch darauf
bedacht, seine Süßigkeiten nah bei sich zu haben. Er wollte das alles hier nicht
umsonst auf sich genommen haben. Sie schafften es bis hinter die Bühne. Dort war es
wesentlich weniger chaotisch, doch während sie schon aufatmeten und sich davon
machen wollten, erschien wie aus dem Nichts ein Mann vor ihnen. Er hatte
zerzaustes Haar, war schreckensbleich und seine Lippe blutete. Auf seiner rechten
Wange zeichnete sich ein hässlicher blauer Fleck ab. Erst bei eingehender
Betrachtung gelang es den Freunden, ihn als den bedauernswerten Sänger der Band
zu identifizieren, der anscheinend auf der Flucht vor seinen Verfolgern war. Ganz
automatisch schloss er sich ihnen an. Sie rannten alle völlig kopflos ein paar hundert
Meter weiter zu dem Bahnhofsvorplatz, auf dem gerade dutzende von verängstigten
Kutschern versuchten, ganz normale Passanten in Sicherheit zu bringen. So etwas
war hier noch nie passiert. Die Freunde rannten weiter, auf eine der Kutschen zu.
Doch noch bevor sie einsteigen konnten, sah Jonas aus dem Augenwinkel einen
Schatten auf sie zu huschen. Als er sich umdrehte, blieben seine panikerfüllten Augen
einzig und allein an der glänzenden Klinge haften. Ihm wurde schlecht. Keuchend
wandte er sich seinen Freunden zu, von denen alle schon in der Kutsche saßen. Gut.
Hoffentlich würde ihnen nichts passieren. Der Mann schoss zielsicher auf Jonas zu.
Er hatte keine Chance auszuweichen, keine Zeit mehr, um im Inneren der Kutsche zu
verschwinden. Er schloss die Augen und hörte, wie das Blut in seinen Adern
rauschte. Nach einer schier endlos langen Zeit öffnete er sie wieder, um zu sehen, wie
sich der wahnsinnige Mann statt auf ihn auf den Sänger der Band stürzte.
Fassungslos und schweißnass musste Jonas mit ansehen, wie er versuchte, ihm das
Messer in den Bauch zu rammen. Rote Tropfen bildeten sich auf dem hellen Stein.
Der Mann hatte laut schreiend mit seinen Händen abgewehrt. Doch der Angreifer ließ
sich nicht beirren. Mit einem vor Wut und Hass verzerrten Gesicht stach er erneut zu.
Dieses Mal erwischte er den Mann in der Bauchgegend. Langsam sackte er in sich
zusammen und fiel zu Boden. Wie aus Reflex schoss Jonas nach vorne. Später, als er
an diesen Moment zurückdachte, würde er sich eingestehen müssen, dass es verrückt
gewesen war. Lebensmüde. Aber Jonas konnte nicht anders. Mit einem lauten Schrei
riss er den Mann mit dem Messer zu Boden. Die Waffe flog ihm aus der Hand und
landete ein paar Meter weiter entfernt auf dem ebenmäßigen Stein. Beide hechteten
darauf zu, Jonas und der Mann. Es war ein Wettlauf mit der Zeit. Wenn Jonas verlor,
würde er sterben. Das war Ansporn genug. Noch bevor sein Angreifer sich richtig
aufgerappelt hatte, war Jonas schon bei dem Messer angekommen. Er streckte seine
Finger danach aus und… wurde unsanft nach oben gerissen. Als Nächstes starrte er in
das maskenhafte Gesicht von Inspektor Flammberg. Jonas blieb die Luft weg. Er
taumelte. Wenn der Inspektor ihn nicht losgelassen hätte, wäre er davor bewahrt
worden, unsanft auf dem Boden aufzuprallen. Es knackte. Doch er spürte keinen
Schmerz. Nur Angst. Der Polizist schien ihn nicht zu erkennen, denn als Nächstes
starrte Jonas in die Mündung einer Pistole, die unmissverständlich auf seinen Kopf
zeigte. Er war wie erstarrt. Wagte es nicht, sich zu bewegen. „Ganz ruhig.“, die
Stimme des Polizisten klang professionell, doch Jonas vermutete, dass das hier
eigentlich nicht sein Job war. Wahrscheinlich hatte er in dem Fall des armen Mannes
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