einen Freund zum anderen. Nachdem sie noch eine Weile lang durch das Städtchen
gelaufen waren und Marie darauf bestanden hatte, für Jonas einen großen Stoffbeutel
zu kaufen, da ihnen Dank ihm eine nicht enden wollende Spur aus heruntergefallenen
Bonbons folgte, machten sie sich wieder auf den Weg zum Bahnhof, dem Platz, an
dem die Kutschen auf sie warten würden. Schon von Weitem konnten sie einzelne
Töne hören, die ihnen irgendwie bekannt vorkamen, mit denen sie aber nichts
anfangen konnten. Als sie schließlich um die Ecke bogen, rückte eine große
Menschentraube in ihr Sichtfeld. „Was ist denn da los?“, Hedwig wunderte sich, „Ist
heute irgendetwas Besonderes los?“ Je näher sie dem Geschehen kamen, desto besser
konnten sie die merkwürdigen Tonfetzen einordnen, die ihnen der Wind zuvor
entgegengeweht hatte. Es war Musik. Ein alles durchschallender Tonvorhang, der die
Leute in den Gassen durch sein immer währendes Auf und Ab und die getragene
Melodie mitriss. Die Freunde merkten bald, dass sie nicht die Einzigen waren, die
sich dem Geschehen näherten. Viele Menschen kamen neugierig näher. So etwas gab
es nicht oft in Miniklu. Die Ansammlung aus Häusern, ein paar Läden und ein paar
wenigen Schulen war eine Kleinstadt, weiter nichts. Doch heute schienen sich die
Straßen dieses kleinen Kaffs auf einmal mit Leben zu füllen. Die Musik zog die
Menschen wie magisch an, vielleicht auch, weil sie eine willkommene Abwechslung
zu dem sonst so unaufgeregtem Stadtleben bildete. Je näher sie kamen, desto
deutlicher konnten sie einzelne Instrumente aus dem Tonschleier heraushören. Ein
Klavier, eine E-Gitarre, ein Schlagzeug, eine Geige. Und da war noch etwas, das sie
aber nicht einordnen konnten. Als Hedwig den gesungenen Text endlich verstehen
konnte, fing sie auf einmal an, begeistert auf und ab zu hüpfen. „Das sind die „Roten
Riesen“, meine Lieblingsband!“, erklärte sie mit leuchtenden Augen, als Marie sie
wegen ihres Herumgehüpfes ungläubig lachend musterte. Sofort fing Hedwig an,
mitzusingen: „If you´re crawling in the deepest night, don´t forget that the sun of
tomorrow will be yours.“ Leo verdrehte die Augen. „Was soll das denn?“, fragte er
kopfschüttelnd, „Also entweder ist das die totale Schnulzenfabrik oder die Leute sind
alle depressiv.“ Hedwig überhörte sein Kommentar und bewegte sich stattdessen im
Takt der Musik, während Jonas angestrengt versuchte, die Wortfetzen, die ihm
bekannt vorkamen, auf Deutsch zu übersetzen. Am Ende kam dabei etwas heraus
wie: „Wenn du in der Nacht kraulst, vergiss nicht, dass du morgen eine Sonne sein
wirst.“ Als ihm selbst klar wurde, wie wenig Sinn seine Übersetzung machte, verzog
er verärgert das Gesicht. Er hasste Englisch und würde es eh nie schaffen, auch nur
einen korrekten Satz von sich zu geben. Sie kamen immer näher. Selbst Marie
lauschte nun fasziniert den Tönen. Sie mochte den Text und das Zusammenspiel aus
den verschiedensten Instrumenten im Einklang mit der ungewöhnlichen Melodie ließ
das Ganze mystisch erscheinen. Als sie endlich nah genug herangekommen waren,
fing Hedwig unverzüglich an, sich durch die Menschenmassen hindurch auf die
Bühne zu zu quetschen. Marie folgte ihr gespannt, während die beiden Jungs ihr nur
widerwillig hinterherschlurften. „Schon vergessen, dass wir wieder zurück fahren
wollten?“, wagte Leo einen sowohl halblauten, als auch halbherzigen Versuch, seine
Freunde zum Weitergehen zu bringen. Aber ihm war schon klar, dass es nichts nützen
würde. Sie würden so lange hierbleiben, bis Hedwig genug hatte und das war
höchstwahrscheinlich erst, wenn das Konzert zu Ende war. Hinter ihm quetschte sich
Jonas durch die Reihen und stöhnte jedes Mal genervt auf, wenn sein prallgefüllter
Stoffbeutel gegen die anderen Leute stieß, die dicht an dicht gedrängt und zumeist
mit glänzenden Augen den besonderen Klängen lauschten. Dadurch, dass Jonas sich
ungefähr bei jeder zweiten Person entschuldigen musste, bekam er die Gelegenheit,
ihre Gesichter zu mustern. Bei den meisten von ihnen war da nichts Besonderes, sie
waren alle hingerissen und hatten für nichts anderes Augen und Ohren mehr als für
das, was da auf der Bühne passierte. Doch es schien auch ein paar schwarze Schafe
zu geben, die grimmig und mit geballten Fäusten zu der Band hinauf starrten. Jonas
war verwirrt. Wenn ihnen die Musik nicht gefiel, warum waren diese Exoten dann
hier? Als er es endlich geschafft hatte, sich an der Seite seiner Freund in der ersten
Reihe zu positionieren, raunte er: „Was ist das überhaupt für eine Band?“ Eigentlich
war Hedwig jetzt viel zu sehr damit beschäftigt, die von ihr bewunderten und auf der
Bühne positionierten Typen anzustarren, aber da Jonas nach Fakten über ihre Idole
verlangt hatte, antwortete sie stolz: „Die Band kommt ursprünglich aus Liemir und
wurde erst vor wenigen Jahren gegründet, hat aber schon sehr viele Erfolge erzielt,
Tourneen gemacht und so weiter. Manchmal fahren sie einfach in irgendeine
unbedeutende Stadt und geben dort unangekündigt ein Straßenkonzert. Kaum zu
fassen, dass sie gerade heute nach Miniklu gekommen sind!“ Beim letzten Satz
platzte ihre Stimme fast vor Freude. In Jonas Kopf fing es an zu rattern. Diese Band
kam also aus Liemir… er wagte nicht, es auszusprechen, aber er hatte den
unangenehmen Verdacht, dass unter den Zuschauern einige Leute waren, die in den
letzten Wochen ebenso wie viele andere Irianer Opfer des irren Hasses geworden
waren, den die Südirianer auf die Leute aus dem Norden entwickelt hatten. Das war
nicht gut. Jonas hörte die ganze Zeit über nur mit halbem Ohr zu. Angespannt drehte
er sich immer wieder nach hinten um, um zu sehen, ob einer der Besucher, die auf die
Bühne starrten, als hätten sie Mordgedanken, anfangen würde, die Band
herunterzumachen. Doch es geschah nichts. Zum Glück. Langsam konnte Jonas sich
wieder entspannen. Allerdings nur so lange, bis der Ärger kam. Sie standen hier nun
schon seit geraumer Zeit, die Musik war hier vorne irre laut und sein Arm, den er für
seine Einkäufe geopfert hatte, tat ihm mittlerweile so weh, dass er fürchtete, er könne
jeden Moment abfallen. Kurz spielte er mit dem Gedanken, den Beutel einfach auf
den Boden zu legen, aber die Angst, jemand könne aus Versehen darauf
herumtrampeln, hinderte ihn daran. Unwirsch stupste er Leo an, bei dem er hoffte,
auf Verständnis zu stoßen. „Hey“, sagte er und versuchte dabei, die Musik zu
übertönen, ohne, dass die beiden Mädchen etwas davon mitbekamen. „Können wir
bitte wieder gehen? Mein Arm fällt gleich ab.“ Leo schüttelte den Kopf. Seine Augen
waren leicht gläsern und mit Erschrecken stellte Jonas fest, dass nun auch er dieser
Musik verfallen sein musste. Aber das gab sein Freund natürlich nicht zu. „Wir
kriegen Hedwig und Marie sowieso nicht von hier weg, es sei denn, wir legen sie in
Ketten und führen sie ab.“ Das war also seine Ausrede. Jonas kochte vor Wut. Bockig
trat er mit seinem linken Fuß einen imaginären Stein von sich weg. Schließlich blieb
ihm nichts anderes übrig, als die Situation so hinzunehmen. Geschlagen ließ er seinen
Beutel auf den Boden vor ihm fallen und versuchte, den Klängen, die schon seit
mindestens einer Stunde vor ihm herschallten, irgendetwas abzugewinnen. Da
geschah etwas Wunderbares: nachdem das nächste Lied endlich zu ende war,
verklangen die Töne endgültig und der Sänger trat vor, um etwas zu sagen.
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