ja auch nicht viel besser als bei uns. Fast alles, was es zu berichten gibt, ist negativ.“
Kopfschüttelnd sah sie zu, wie darüber berichtet wurde, wie eine radikale Gruppe
Hetzkampanien veranstaltete, in denen sie Rache für den Süden forderte. Kurz darauf
liefen zig Bilder von Demonstranten über den Bildschirm. Iria schien sich innerhalb
weniger Wochen in ein hochexplosives Minenfeld verwandelt zu haben. Zu diesem
Entschluss kam auch Leo, als der Polizeipräsident von der schwindelerregend schnell
ansteigen Rate von Drohbriefen erzählte, die vor allem Politiker erhalten hatten.
„Und jetzt kommen wir zum wichtigsten Teil unserer Sendung.“, eröffnete die
Nachrichtensprecherin, „Eljosch Kanidis hat sich gestern mit Christian Borost, dem
Vertreter der Bürgerinitiative „Heimat Südland“ getroffen.“ Wir sind gespannt, was
dabei herausgekommen ist.“ Als nächsten war die Kamera auf ein schmal
zulaufendes Gesicht mit stechenden Augen gerichtet, eingesäumt von eisblauem
Haar. „Ich, Christian Borost, Vertreter der Bürgerinitiative „Heimat Südland“,
besuche heute den Präsidenten von Iria, um ihm einige wichtige Fragen zu stellen
und mich mit ihm zu unterhalten.“ Ein charmantes Lächeln zierte das hübsche
Gesicht. Dann wurde die Aufnahme abgespielt. Je mehr sie sahen, desto stärker kam
bei ihnen das Gefühl auf, dass sich der Präsident diesem Gespräch irgendwie nicht
freiwillig unterzogen hatte. Er wirkte auf einmal nervös, im nächsten Moment aber
wieder ruhig und sachlich. Es war klar, dass dieser Borost ihn auf den Zahn fühlen
wollte. Zuerst waren Kanidis Antworten gut, aber irgendwann zog sich die imaginäre
Schlinge um seinen Hals immer enger, bis das Gespräch am Ende völlig ausartete.
Leo kam sich vor wie in einem Krimi, wenn der Täter endlich gefasst und verhört
wird, tausende von Fragen über sich ergehen lassen muss und letztendlich gesteht.
Aber Präsident Kanidis hatte nichts zu gestehen. Schließlich wurde die Aufnahme
unvermittelt abgebrochen. Keiner wusste, warum. Von den drein hatte es Hedwig am
meisten getroffen, den Präsidenten ihres Heimatlandes so zu sehen. Einen, wie sie
meinte, sehr guten Präsidenten. Als Jonas endlich fertig war und sie sich wieder vom
Fernseher abwandten, hielt sie sich geschockt eine Hand vor den Mund und flüsterte:
„Oh Gott.“ Und sie meinte es ernst. Der beliebteste Präsident der gesamten
irianischen Geschichte war an einem einzigen Tag entehrt worden.
Am Abend zuvor
Es war kalt und dunkel. Aus den großen, dunklen Gassen, die von der taghell
beleuchteten Hauptstraße abzweigten, tönte unheimliches Männergelächter vermischt
mit weiblich klingenden Quiektönen. Um diese Zeit war kaum mehr jemand
unterwegs. Nur vereinzelt traf er auf Gestalten, die entweder halb rannten, hektisch
darauf bedacht, so schnell wie möglich in ihr sicheres Zuhause zu kommen, oder in
den überdachten Hauseingängen herumlungerten. Eljosch spürte die Kälte, als ein
Mann, dessen Gesicht er wegen der Dunkelheit nicht erkennen konnte, ihm den
Rauch seiner Zigarette ins Gesicht blies. Mit grimmiger Miene steckte Eljosch die
Hände in die Hosentaschen. Auch seine 50€ waren schützenswert. Er fühlte sich auf
eine seltsame Art und Weise wohl. Die Atmosphäre, die sich über dieses Viertel des
nächtlichen Veridas gelegt hatte, war so offen, so ungeschützt, so feindlich, dass es
fast schon wieder lächerlich war, überhaupt zu versuchen, dem Sog aus Alkohol,
Drogen und gekaufter Liebe zu entkommen. Eljosch fühlte sich wie ein Reh in der
Dämmerung inmitten eines riesigen Feldes, in dessen Ohren schon die Schüsse der
Jäger hallen. Was für einen Sinn hat es, wegzurennen? Es fing an zu regnen. Erst nur
tröpfchenweise, bald aber stärker. Eine Wolke schob sich vor den hellen Mond,
sodass die hässlichen Leuchtreklamen der Nachtclubs nur noch anziehender wirkten.
Kein Ort für einen Präsidenten. Doch das Wetter war auf seiner Seite. Es hatte sich
Eljoschs Stimmung angepasst. Borost hatte ihn blamiert. Schlimmer noch, er hatte
halb Iria dazu gebracht, sich gegen ihn aufzulehnen. Seine eigenen Leute misstrauten
ihm und sahen in ihm einen Fremden. Wegen eines aufgezeichneten Gesprächs. Seit
Stunden dachte Eljosch an nichts anderes mehr. Wenn er die Aufnahmen doch nur
von Anfang an abgelehnt hätte! Genaugenommen hätte er Borost nicht einmal
empfangen müssen. Aber nein, er hatte für sein Volk so transparent wie möglich
agieren wollen. Offen und somit auch leicht verletzlich. Die Hände in seinen
Hosentaschen ballten sich zu Fäusten. Er hatte alles falsch gemacht. Alles. Er war
Schuld daran. Schuld an dem Misstrauen, dass sich über die Medien ausbreitete wie
radioaktive Strahlung. Unaufhaltsam. Schnell. Tödlich. Er hatte aufgehört, die
einzelnen Vorwürfe, die ihm am Vormittag gemacht worden waren, zu katalogisieren.
Die einen nannten ihn nur inkonsequent und bemängelten, dass er sich nicht genug
für die Gerechtigkeit einsetzten würde, die anderen sahen in ihm, so dämlich es auch
klang, den Drahtzieher der Kriegsverbrechen, die der Ring Pordu vor rund 100
Jahren an der Seite der Nordringe verübt hatte. Auf der Arbeit hatten alle ihn
angestarrt. Ihm mit stummen Blicken zu Verstehen gegeben, dass es für ihn besser
wäre, zu verschwinden. Er sollte als Opfer dargebracht werden. Ausgeliefert der
unzufriedenen, reißerischen Masse, nur um das Volk der Irianer daran zu hindern,
auch den Rest der Regierung zu zerfleischen. Selbst Kristina hatte ihn nicht
ermutigen können. „Das ist eine Katastrophe, Eljosch!“ Ihre Worte hallten in seinem
Kopf nach. Wenn selbst Kristina einsah, dass eine Sache ein ernsthaftes Problem war,
dann war das Problem in Wahrheit sintflutartig. Chaos bringend. Eljosch hatte die
Aufnahmen des Gesprächs gesehen. Und er hatte sich bearbeitete Versionen davon
anschauen müssen. In manchen von ihnen war der Film so geschnitten worden, dass
er auf den Bilder plötzlich Dinge sagte, die er in Wahrheit nicht einmal gedacht hatte.
Er war am Ende. Er brauchte Hilfe. Und dazu wollte er untertauchen. Abstürzen.
Wenn schon am Ende, dann so richtig. Es hatte keinen Zweck mehr zu kämpfen. Er
würde zurücktreten. Es sei denn, Gott würde ein Wunder tun. Womit er nicht
rechnete. Und danach… was danach mit seinem einst geliebten Land geschah, lag
nicht mehr in seiner Verantwortung. Ohne es zu bemerkten, hatte sich seine Hand auf
die kaputte Türklinke einer heruntergekommenen Kneipe gelegt. Die grell blau
leuchtende Aufschrift davor lautete: Men´s End. Genau das Richtige. Ohne zu zögern
riss Eljosch die Tür auf und trat ein. Erst konnte er nichts erkennen. Innen war es
düster. Wahrscheinlich hat die der Suchscheinwerfer da draußen ein Vermögen
gekostet, sodass sie hier drinnen auf die guten alten Kerzen zurückgreifen müssen.
Wie zu Hause im Süden. Ein kurzes Glücksgefühl durchströmte ihn, als er daran
dachte. Ja, diese Kneipe war genau die richtige. Nur das Atmen fiel ihm etwas
schwer. Der stinkende Zigarrenqualm lag so schwer in der Luft, dass er glaubte,
jeden Moment zu erstickten. Nur mit Mühe fand er den Weg zur Theke, wo ihn ein
dicker Barmann in verlotterter Kleidung mit seinem zahnlosen Mund angrinste. „Neu
hier?“, fragte mit schwerer Zunge. Eljosch bemerkte, dass er beim Sprechen sabberte.
Deshalb also die erschwerte Aussprache. Als Eljosch nicht reagierte, fügte der Mann
mit hochgezogenen Augenbrauen hinzu: „Hier kommen meist nur unsere
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