noch?“, fragte sie vorsichtig. Kaum hatte sie den Mund aufgemacht, bäumte sich der
Polizist mit dem Schnurrbart schon vor ihr auf. „Natürlich.“, ließ er laut vernehmen
und streckte die Brust, „Jede Aussage, die uns in diesem Fall weiterbringt, ist
wichtig. Lass nur hören.“ Interessiert musterte er sie. „Ähm...“, Marie spürte, dass er
jetzt etwas wirklich Wichtiges von ihr erwartete und hoffte, dadurch einen Pluspunkt
für sich einzuheimsen, weil er es war, der sie dazu aufgefordert hatte, zu reden. „Ich
habe eigentlich nichts anderes gesehen als der Kutscher auch. Ich frage nur, weil ich
wissen möchte, ob es notwendig ist, dass auch wir alle auf dem Präsidium eine
Aussage machen müssen.“ Der Schnurrbärtige schaute nur enttäuscht drein und
schwieg. Also beantwortete Inspektor Flammberg ihre Frage. „Müsst ihr nicht.“,
sagte er und fügte dann ruhig hinzu: „Aber wenn euch irgendetwas Wichtiges einfällt,
woran ihr euch erinnern könnt, irgendein Detail, das ihr jetzt im Eifer des Gefechts
vergessen habt, dann meldet euch.“ Jetzt wandte er sich an den Mann ohne Uniform.
„Schon was herausgefunden, Taski?“ „Ein Mann, schätzungsweise Mitte zwanzig.“,
eröffnete der Angesprochene, ohne seinen prüfenden Blick von der Arbeit, die er vor
sich liegen hatte, zu heben. „Er scheint mehrere Knochenbrüche zu haben, die ihm
aber erst nach seinem Tod zugefügt worden. Und das hier“, er deutete auf das nicht
mehr vorhandene Bein, „ist wahrscheinlich herausgerissen worden. In seinem
Gesicht finden sich Bissspuren.“ „Was ist die Todesursache?“, forschte der Polizist
mit dem Schnurrbart. Der Gerichtsmediziner deutete auf die tiefen Stiche im Rumpf
des Toten. „Es scheint so, als wäre er erstochen worden.“, sagte er nachdenklich,
„Und das vor grob geschätzt mindestens 24 Stunden. Das ist merkwürdig.“ „Was?“,
fragte Flammberg, während er einerseits versuchte, den Leichnam zu studieren, um
sich ein besseres Bild von dem Fall zu machen und andererseits darauf bedacht war,
so wenig wie möglich daran erinnert zu werden, dass das dort vor ihm einmal ein
Mensch voller Leben gewesen sein musste. „Na“, der Gerichtsmediziner schnalzte
mit der Zunge, als wäre es das Offensichtlichste überhaupt, „Das hier sieht mir nicht
nach einem Unfall aus. Aber wenn er ermordet wurde, dann müssen anschließend
wilde Tiere über ihn hergefallen sein und ihn hierher geschleppt haben. Und mir fällt
kein Tier hier in der Gegend ein, das zu so etwas im Stande wäre.“ Unvermittelt stieß
Inspektor Flammberg einen leisen Pfiff aus. „Die Gierungen“ Es war mehr eine Frage
als eine Feststellung. Der Gerichtsmediziner wiegte den Kopf nachdenklich hin und
her. „Wenn man nur das Wenige betrachtet, was man über sie weiß, könnte das
übereinstimmen. Aber bis jetzt ist man davon ausgegangen, dass Gierungen keine
Menschen angreifen.“
Neugierig und zugleich schaudernd hatten die vier Freunde gelauscht. „Gierungen?“,
Jonas verzog das Gesicht, „Die haben noch nie jemanden angegriffen.“ Trotzdem
hatten kurz darauf alle ein komisches Gefühl im Bauch, als ihre Kutsche polternd
durch die absolute Düsternis des Waldes fuhr. Marie klammerte sich ängstlich an ihre
Freundin, die wiederum hielt Erwin fest an sich gedrückt. In Leo kamen immer
wieder die Bilder des zerschundenen Mannes hoch und er bekam Angst bei dem
Gedanken, dass sie alle genauso enden könnten wie er. Als das Licht der Sonne
schließlich die Dunkelheit durchbrach und den Blick auf den erdigen Pfad, der auf
das kleine Städtchen zuführte, freigab, war die Freude umso größer. „Endlich.“,
selbst Jonas stöhnte erleichtert auf. Obwohl er die Leiche nicht gesehen hatte, waren
in seiner Fantasie in Windeseile furchtbare Bilder entstanden. Er wünschte sich in
diesem Moment, nie mehr nach Firaday zurück zu müssen, um nie mehr den Wald zu
durchqueren. Sie fuhren noch ein paar Meter, dann stiegen sie aus. Wenig später
standen sie auf dem Platz, auf dem Emanuel vor einem Jahr entschieden hatte, sie
nach Firaday zu schicken. Bei dem Gedanken an ihn zogen sich ihre Eingeweiden
schmerzhaft zusammen. Emanuel, der große Löwe. Er war jahrelang Irias wichtigster
Berater gewesen und hatte über einen unaufwiegbaren Schatz an Weisheit verfügt. In
seiner Nähe hatte man sich wohl und sicher gefühlt. Paradoxerweise. Denn Emanuel
war ein Löwe gewesen. Doch eines Tages war er verschwunden, nachdem er sich von
Marie verabschiedet hatte. Sie spürte noch das Kribbeln von damals in ihrem Bauch,
als sie an seiner Seite durch die wunderschönen Wiesen gestreift war. Und den
Schmerz, als sie am nächsten Morgen aufgewacht war mit der Gewissheit, dass sie
ihn vielleicht nie wieder sehen würden. Emanuel hatte ihnen den Auftrag gegeben,
den „Schlüssel der Macht“ zu zerstören. Und er hatte sie dabei unterstützt. „Wohin
jetzt?“, fragte Jonas und zerbrach dadurch das andächtige Schweigen. Marie zuckte
mit den Schultern. „Mir egal.“, sagte sie. Dann merkte sie, wie ein spitzbübisches
Leuchten in Jonas Augen aufglomm. „Dann gehen wir als Erstes zur Bäckerei.“,
sagte er gut gelaunt und zog die anderen mit sich. Sobald sie in den warmen
Verkaufsraum eintraten, lief ihnen das Wasser im Mund zusammen. Manchmal,
dachte Leo, riechen die Dinge besser, als sie schmecken. Doch das war genau das
Problem. Angezogen durch den verführerischen Duft machte keiner von ihnen vor
der Theke Halt ohne etwas mitzunehmen. Außerdem hatten sie schon wieder Hunger.
Marie und Hedwig kauften sich eine mit Früchten gefüllte Teigtasche und Leo einen
großen Schokokeks. Jonas füllte einen ganzen Beutel mit den verschiedensten
Leckereien, von Amerikanern und Quarkbällchen, bis hin zu überbackenen Bananen.
Dabei berichtete ihm die Verkäuferin stolz, dass ihre Bäckerei jetzt bei fast allen
Produkten von Weizenmehl auf Dinkelvollkornmehl umgestiegen war. Jonas hörte
kaum zu. Aber später wunderte er sich darüber, dass sein Marzipanröllchen bei
genauerer Betrachtung dunkler war als sonst. Als Jonas die anderen erstaunt darauf
hinwies, lachte Leo nur und behauptete: „Es hat bestimmt Sonnenbrand.“, woraufhin
Marie nur verächtlich den Kopf schüttelte. Als Nächstes entbrannte zwischen Hedwig
und Jonas eine heftige Diskussion, ob sie erst zum Tiergeschäft gehen sollten, um
Futter für Erwin zu kaufen oder zu dem kleinen Süßigkeitenladen, der direkt neben
der Bäckerei lag. Auf Maries Einwand hin, dass er seine Süßigkeiten auch in jedem
x-beliebigem Supermarkt für weniger Geld bekommen könne, erklärte Jonas: „Die
Süßigkeiten da sind aber nicht hausgemacht. Frau Jahnsan stellt sie schon immer
selbst her. Und deshalb schmecken sie auch viel besser.“ Da musste Marie ihm Recht
geben. Also stolzierten sie wenig später alle nacheinander in den kleinen, von oben
bis unten mit bunten Bonbons vollgestopften Laden hinein. Als Entschädigung für
Hedwig, dass sie noch ein bisschen warten musste, um das köstliche Hundefutter zu
kaufen, hielt Jonas ihr wenige Zeit später eine bunte Tüte Bonbons hin, die sie
überrascht annahm. Aber Jonas Großeinkauf war damit noch lange nicht fertig. Seine
Freunde vertrieben sich die Wartezeit, indem sie gespannt auf den kleinen Fernseher
starrten, der seit neustem in einer Ecke des Raumes installiert war. Es liefen die
irianischen Nachrichten. Marie verzog traurig das Gesicht, als sie bemerkte: „Das ist
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