„Ihre Sorge berührt mich sehr, liebe Frau Wenzel“ fing er mit getragener Stimme an „und Sie haben Recht. Ich stehe gegenwärtig vor meiner größten beruflichen Herausforderung, nämlich diesen müden Laden hier auf Vordermann zu bringen. Da kann man in einem schwachen Moment schon einmal den Mut verlieren aber Sie haben mich wieder aufgerichtet. Sehen Sie“ schwadronierte er jetzt weiter „in meiner Familie gibt es eine genetische Disposition für Depressionen und Sie können sich sicher vorstellen wie verdammt schwer es ist, mit dieser Bürde auf den Schultern noch so eine verantwortungsvolle Aufgabe wie die meine zu meistern. Aber ich musste mich schon immer durchbeißen und werde es auch diesmal tun, auch wenn es manchmal nahezu unmenschlicher Kräfte dazu bedarf. Ich danke Ihnen, mit solchen Mitarbeitern wie Ihnen an der Seite wird uns gemeinsam Großartiges gelingen. Und die Sachen werde ich verschwinden lassen. Vertrauen Sie mir, ich werde nie wieder schwach werden. Das bin ich auch meiner Familie schuldig, denn die Kette der Selbstmorde in unserer Sippe soll durch mich nicht fortgesetzt werden.“
Frau Wenzel atmete erleichtert aus, der Minister hatte sich wieder gefangen und sie wollte seinen neu gewonnenen Tatendrang noch mit einer Information anfeuern.
„Sie sollten übrigens noch wissen, dass Herr Dr. Weiland sich zum Fürsprecher der Opposition hier im Haus gemacht hat und Ihnen eine unsoziale Mitarbeiterführung vorwirft. Man müsste ihn deswegen zur Rede stellen, da er das Klima in unserem Haus so empfindlich vergiftet.“
„Und genau das werde ich jetzt gleich tun“ brauste Bergmann auf „rufen Sie einen der Personalräte zu mir, denn ich möchte diesem sauberen Weiland nicht ohne einen Zeugen entgegen treten.“
Personalrat Richter war innerhalb von 5 Minuten zur Stelle und Frieder Bergmann schilderte ihm kurz die Situation, dann gingen sie zusammen zum Büro des Referatsleiters Revision. Dieser schmökerte gerade in einem Buch und legte es verärgert zur Seite, als Bergmann und der Personalrat eintraten.
„Was kann ich für Sie tun“ fragte er lustlos.
„Können Sie mir erklären was Sie dazu treibt, hier im Haus Gerüchte zu verbreiten, ich würde unsozial mit Ihnen umgehen“ blaffte ihn Frieder Bergmann an.
„Das entspricht leider der Wahrheit“ erwiderte Weiland süffisant.
Einen Stuhl hatte er seinen Besuchern nicht angeboten und Personalrat Richter lehnte sich haltsuchend am Fenstersims an, Bergmann stand neben ihm. Es entspann sich ein längeres Wortgeplänkel zwischen Weiland und Bergmann (in dem niemand die Überhand gewann) und Personalrat Richter verlor bald das Interesse an der Auseinandersetzung und schaute aus dem Fenster heraus, um im gleichen Augenblick zusammen zu zucken. Er stieß den erregten Frieder Bergmann an und dieser drehte sich auch in diese Richtung. Auf dem Fensterbrett lagen immer noch die sich in einem festen Aggregatzustand befindlichen Stoffwechselprodukte Bergmanns. Der nächtliche heftige Regen hatte zwar die Fassade abgewaschen aber nicht genug Kraft gehabt, diese Teile vom Fensterbrett hinunterzuspülen.
Frieder Bergmann kam einen Augenblick von der Rolle, denn die Erinnerung an den desaströsen Vortag spiegelte ihm sofort wieder die Bilder vor, als er den Eimer entleerte. Dann hatte er sich wieder im Griff und fuhr den gelangweilt dasitzenden Dr. pol. Weiland wie eine Furie an.
„Können Sie mir das hier erklären“ presste er heraus.
„Was bitte sehr“ erwiderte Weiland lässig.
„Kommen Sie her und erklären Sie mir diesen unglaublichen Vorfall“ erwiderte Bergmann erregt.
Weiland erhob sich gemächlich, trat an das Fenster heran und schaute nach draußen, um sofort zu erbleichen.
„Das ist mir unerklärlich“ stammelte er hilflos.
„Mir ist das nicht nur unerklärlich, ich bin geradezu entsetzt“ schaltete sich jetzt Personalrat Richter mit lauter Stimme ein „so etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen. Mir fehlen einfach die Worte dafür um meine Empfindungen richtig ausdrücken zu können, aber eins steht fest: es handelt sich um einen Vorfall, da hat der Minister vollkommen recht, der unvorstellbar ist, zumindest für einen normalen Menschen. Welcher Teufel hat Sie bloß geritten, so etwas zu tun?“
„Es ist mir unerklärlich, wie die .. äh … die .. dorthin gelangt ist“ stotterte Weiland kläglich.
„Guter Mann“ sprach ihn Frieder Bergmann an „wir reden hier nicht über einen schlechten Scherz sondern über eine Tatsache, die ich die Nähe einer Perversion rücken würde. Ich bin schockiert und fassungslos! Allein die Vorstellung, wie Sie …“
„Ich war es nicht“ begehrte Weiland auf „warum sollte ich denn so etwas Ekliges tun?“
„Nun, dafür gibt es sicher viele Gründe dafür, aber diese dürften mit erheblichen psychischen Problemen zu tun haben. Es gibt ja Leute, für die es höchster Genuss ist, mit der … ähm ... bestimmte Dinge anzustellen. Es schüttelt mich wenn ich Sie mir bei solchen Dingen vorstelle! Was sagen Sie dazu Herr Richter“ sagte Frieder Bergmann.
„Herr Minister, ich muss sagen dass ich zutiefst schockiert bin, heute solche menschliche Abgründe kennen zu lernen. Wer weiß, was Herr Dr. Weiland in all den Jahren hier unbeobachtet noch so getrieben hat. Man sollte sein Büro einmal genauer unter die Lupe nehmen, ich bin sehr gespannt, was hier noch alles zu Tage kommt. Wirklich sehr gespannt!“
Dr. pol. Weiland sackte in sich zusammen. In den vergangenen Jahren hatte er ausreichend Zeit und Muße gehabt (da er ja nur eine halbe Stunde im Monat Sprechzeit hatte) sich einem ganz speziellen Hobby zu widmen: er sammelte Bilder abnorm gestalteter Menschen. Da er ja keinen Computer nutzte studierte er die Angebote einschlägiger Tauschbörsen ausschließlich über bestimmte Zeitungen und hinterließ somit auch keine verräterischen Spuren. Im Verlauf der Jahre war so eine beachtliche Sammlung zusammengekommen und Weiland fragte sich manchmal selbst, was ihn an diesen Bildern so faszinierte. Jedenfalls betrachtete er die missgestalteten Menschen mit einer Mischung von Ekel und Erregung und dies tat er natürlich vorzugsweise auf Arbeit, wo er ja Zeit zu Hauf hatte. Bei manchen Darstellungen musste er sich zwingen hinzusehen, so gewaltig und abstoßend waren die Abnormitäten, aber wenn er sich dazu durchgerungen hatte war es wie ein Rausch für ihn, er war stark! Dass mit ihm etwas nicht stimmte verdrängte er erfolgreich und die anfängliche Sammelleidenschaft wandelte sich immer mehr zu einer Obsession. Da er in all den Jahren arbeitsmäßig überhaupt nicht belästigt worden war hatte er auch keinerlei Aufwand getrieben, seine Mappe mit der Bildersammlung irgendwo aufwändig zu verstecken, sie lag immer griffbereit in der obersten Schublade seines Schreibtischs.
„Da“ sagte er und warf die Mappe auf den Tisch.
Bergmann und Richter sahen sich an, dann nahm Frieder Bergmann die Mappe in die Hand und schlug sie auf. Was er erblickte trieb ihm augenblicklich Schweißperlen auf die Stirn und beschleunigte seinen Herzschlag enorm. Er starrte auf das Gesicht eines Mannes, der wohl durch einen Unfall schrecklich verunstaltet worden war und dem noch extra zu der schon verstörend genug wirkenden Fratze Wucherungen auf dem Kopf saßen. Bergmann schluckte und unterdrückte einen Brechreiz, Richter schaute ihm über die Schulter und begann zu zittern. Die beiden Männer schauten Dr. pol. Weiland an, der bleich in seinem Stuhl hockte.
„Ich muss mich zusammenreißen, um Ihnen nicht gleich hier an die Gurgel zu gehen“ presste Bergmann heraus „Sie delektieren sich also während ihrer Dienstzeit an diesen widerwärtigen Bildern und dann schmieren Sie auch noch .. nun, ja, dieses Zeug da draußen auf das Fensterbrett. Was für Spiele Sie zu Hause treiben ist mir eigentlich egal, aber hier sind bestimmte Normen einzuhalten, und gegen diese haben Sie eindeutig verstoßen. Sie sind in dieser Funktion nicht mehr tragbar, was meinen Sie, Herr Richter?“
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