Fünf Minuten später erreichte er den Hof „seiner“ Schreinerei in der Baaderstraße, die er zwar nicht gekauft, aber geschäftsführend übernommen hatte.
Christian wurde bereits mit 16 Jahren Vollwaise. Seine Eltern starben Ende 1944 bei einem Luftangriff der Alliierten. Im Jahr darauf schloss er seine Ausbildung bei einer der besten Schreinereien in der Wiener Innenstadt erfolgreich ab. Dann hielt ihn nichts mehr in seiner Heimatstadt. Der Stadt, die ihn täglich daran erinnerte, wie grausam das Leben doch sein konnte. Direkt nach dem Ende des Krieges verließ er Wien.
Trotz all dem Leid, das ihm so früh wiederfahren war, hatte er ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein entwickelt, das ihn antrieb, aus seinem jungen Leben das Beste machen zu wollen. Er wusste um sein besonderes handwerkliches Geschick und spürte auch, dass sein ausgeprägtes freundliches Wesen ihm viele Türen öffnen konnte.
Im Münchner Merkur fand er ein Inserat:
„ Kleine aber feine Schreinerei in der Isarvorstadt
sucht einen Nachfolger“
Das war’s doch! Christian zögerte nicht lange, sich als Nachfolger zu bewerben. Nun musste er den bisherigen Besitzer nur noch von seiner Qualifikation überzeugen und ihm vermitteln, dass er der Richtige war. Inzwischen schrieb man das Jahr 1947 und er war zwanzig Jahre alt. Leider scheiterte er zunächst an einer einzigen Frage Alois Wagners: „Wie hoch ist ihr Bankkonto, junger Mann?“ Worauf er wahrheitsgemäß geantwortet hatte: „Ich habe kein Bankkonto!“ Daraufhin lehnte Wagner erstmal jegliche weitere Unterhaltung ab. Geschlagene zwei Wochen dauerte es dann noch, bis Christian einen wunderbaren Vorschlag erdacht hatte, von dem er sicher war, mit dem Besitzer erneut ins Gespräch zu kommen.
Alois Wagner hatte drei Monate vor Kriegsende sein rechtes Bein verloren. Ein Leben lang war er in seinem Handwerksbetrieb aufgegangen. Inzwischen im Alter von 76 Jahren, machte auch sein Rücken nicht mehr so recht mit und es fehlte ihm allmählich die Kraft, weiter gute Arbeit zu leisten. Die rechte Motivation war ihm auch abhandengekommen. Außerdem hatten er und seine Frau finanziell schon lange ausgesorgt. Dieser Christian gefiel ihm spontan. Und eigentlich hatte er ein gutes Gefühl – ein sehr gutes sogar! So traf man sich zu einem gemeinsamen Feierabendbierchen wieder, bei dem Christian den beiden seinen Vorschlag unterbreiten konnte:
Während Christian die laufenden Geschäfte übernahm, würde ihm Alois Wagner mit Rat und Tat zur Seite stehen. Die Buchhaltung bliebe nach wie vor in der Hand von Maria Wagner. 60% der Gewinne gingen in den ersten 2 Jahren der Zusammenarbeit an die Familie Wagner. Nach Ablauf weiterer drei Jahre verringerte sich der Prozentsatz auf 25%. Diese Gewinnbeteiligung wäre Christian bereit, bis an das Lebensende von Alois und Maria Wagner zu zahlen.
Beide reagierten begeistert! Entscheidend aber war auch die Tatsache, dass Alois das Gefühl hatte, weiter gebraucht zu werden. Außerdem mussten beide, unter diesen Bedingungen, ihr Lebenswerk, diesen schönen alten Betrieb, der ihnen so viel bedeutete, nicht verlassen. Ausschlaggebend war letztendlich jedoch die Tatsache, dass Alois sicher sein konnte, seine Maria auch nach seinem Tod versorgt zu wissen. Nicht nur finanziell! Er vertraute Christian vollkommen. Ebenso wie Maria. Fast konnte man sagen, dass diese bereits dem Charme und dem grenzenlosen Optimismus dieses jungen Mannes erlegen war.
Schnell ging es wirtschaftlich bergauf. Aufträge gab es ausreichend. Die Schreinerei hatte einen guten Namen und Christian eroberte die Münchner Kundschaft im Handumdrehen. Bald mussten zwei weitere Schreiner eingestellt werden, weil man so viel zu tun hatte.
Im 2. Obergeschoß der Schreinerei hatte sich Christian inzwischen - in Wochenendarbeit - eine gemütliche Wohnung ausgebaut.
Um 18:00 Uhr war am Freitag Feierabend. „Ich habe heute noch einen ganz wichtigen Termin“, rief er Maria zu, die ihm im Treppenhaus begegnete. Sie wünschte ihm schmunzelnd viel Glück und ein entspanntes Wochenende. „Das werde ich haben, ganz sicher!“
Nun noch sorgfältig rasieren, waschen und das neue, vor einer Woche gekaufte Hemd überstreifen. Dazu der schöne blaue Anzug… Einfach unschlagbar würde er aussehen! Sein ohnehin schon großes Selbstvertrauen schlug Kapriolen!
Die Schmetterlinge in seinem Bauch begannen wie verrückt herumzuschwirren. Er hastete die Treppen hinunter, stieg in den am Vorabend noch gewaschenen schwarzen, nun glänzenden VW Käfer und fuhr hinüber in die Maximilianstrasse. Es war zwei Minuten vor 19:00 Uhr als er das Auto direkt vor den Künstlereingang der Oper parkte.
Die Zeit verstrich, Minute um Minute verrann, die Tür öffnete sich nicht. Niemand kam aus dem Gebäude. Christians Nervosität nahm mit jedem Augenblich des Wartens zu. Hatte sie ihn vergessen? Hatte sie es sich anders überlegt? Er schloss die Augen, atmete tief durch, zwang sich zur Ruhe – als ihn ein Klopfen an die Seitenscheibe aufschreckte.
Zwei wunderschöne blaue Augen lachten ihn an: „Sind sie etwa eingeschlafen?“ Wie vom Blitz getroffen sprang Christian auf, lief um das Auto herum, um ihr die Beifahrertür zu öffnen und strahlte sie an: „Mein Gott, bin ich froh, dass sie da sind!“
Er setzte sich wieder hinter das Steuer und fuhr los. Sophie Louise Dietl musterte Christian. Sollte sie jemals Zweifel gehabt haben, dieser Einladung so spontan gefolgt zu sein, dann wusste sie spätestens jetzt, dass sie alles richtig gemacht hatte. Sein klassisches Profil, die gepflegte Erscheinung und auch seine Art sich zu kleiden gefiel ihr überaus. Schon lange hatte sie nicht mehr einen derart perfekt hergerichteten Mann gesehen.
„Wohin fahren wir?“ „Eine Überraschung! Es ist ganz in der Nähe. Wird ihnen gefallen, Sophie!“ Drei Minuten später erreichten sie den Bogenhausener Hof . Sophie war beeindruckt. Zuletzt hatte sie hier mit den Eltern ihren 16. Geburtstag gefeiert. Ein feines Restaurant mit typisch Bayrischem Essen und einem gepflegtem Ambiente. Sehr, sehr rar in dieser Zeit. Dabei fiel ihr auf, dass Christian wahrscheinlich ein recht gut situierter junger Mann sein musste. Es war alles andere als selbstverständlich in der Nachkriegszeit so ein schönes Auto zu fahren und auch noch in derart exquisiten Lokalen zu verkehren. Christian stellte den Wagen ab. Als er ihr heraus half und sie sich dabei ansahen, mussten beide lächeln. Ein erkennendes Lächeln. Liebe auf den ersten Blick? Ja, so muss das wohl sein, dachte Christian!
Der Ober führte sie zu einem schön gedeckten Tisch und reichte ihnen die Speisekarte. Die Zwei entschieden sich spontan für ein klassisches Menü:
Vorspeise: Hochzeitssuppe
Hauptspeise: Kalbskotelett paniert, mit Bratkartoffeln
Nachspeise: Bayrisch Creme
Dazu trank Sophie ein Mineralwasser und Christian ein schönes, gepflegtes Helles vom Fass.
Als die Suppe serviert wurde mussten beide kichern. „Hochzeitssuppe?“ „Ja“, sagte der Ober schmunzelnd, „das ist eine starke Rinderbrühe mit Pfannkuchen, die gerne den Brautpaaren vor der Hochzeitsnacht serviert wird.“ Mit einem zweideutigen Augenzwinkern verschwand er dann wieder in Richtung Küche. Als sie feststellten, dass sie bisher so gut wie gar nichts voneinander wussten, beschlossen sie das schleunigst zu ändern. Jeder war neugierig auf den anderen.
Wie war ihr Tag heute, Sophie – oder darf ich „Du“ sagen?“ „Gerne Christian!“ Dann erzählte sie ihm, dass sie heute einen ganz besonderen Tag hatte. Zum ersten Mal durfte sie dem Ballettmeister, hinter ihr das gesamte Ensemble, ihr Solo vortanzen. Natürlich war sie sich bewusst darüber gewesen, dass das alles für sie bedeuten konnte. Da sie aber eine solche Ruhe und Sicherheit empfunden habe und auch kein Lampenfieber zu spüren war, wäre ihr Vortrag einfach wunderbar verlaufen. „Alle waren begeistert und applaudierten sogar. Wahrscheinlich hatte wohl niemand wirklich damit gerechnet, dass gerade das „Küken“ so brillieren konnte.“
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