Acht Wochen später saß ich schließlich in einem Hamburger Fernsehstudio.“
„Wie verlief die Sendung?“, hakte Helena nach.
„Glücklicherweise handelte es sich um eine Aufzeichnung, ansonsten wäre ich vor Lampenfieber im Boden versunken. Das Gespräch verlief so wie meine Interviews in der U-Bahn, nur dass ich dieses Mal die Rolle des Befragten innehatte. Ich erzählte von meinen Beweggründen und einzelnen Begegnungen mit Menschen und deren Schicksal. Ehe ich mich versah, war das Gespräch beendet.“
Nach einer kurzen Redepause schob Kurt Gedanken versunken nach: „Eigentümlich, jetzt erlebe ich ein Déjà-vu: Das Gespräch, das wir beiden in den letzten 15 Minuten geführt haben, verlief im Grunde genauso wie das damalige Fernsehinterview. Sie forderten mich auf, von besonderen Begebenheiten aus der U-Bahn zu erzählen und ich schilderte einzelne Erlebnisse. Manche Dinge wiederholen sich im Leben, ohne dass man es im ersten Moment wahrnimmt.“
Während sie schweigend durch den Sand staksten, schien jeder in seiner eigenen Gedankenwelt versunken zu sein. Helena tauchte als erstes wieder auf. „Wie ging es dann weiter?“
„Es entstand ein kleiner Medienrummel um mich: Eine Tageszeitung veröffentlichte ein Interview mit dem Typen, der andere in der U-Bahn nach ihrem Leben befragt. Eine kleine Reportage wurde über mich gedreht, die in zwei anderen Bundesländern im dritten Programm gezeigt wurden. Ein Privatsender brachte einen Kurzbericht über mich in einem täglich laufenden Magazin. Kurze Zeit später rief mich der Chefredakteur Herr Möller nochmals an und teilte mir mit, dass sie ungewöhnlich viele positive Zuschriften zu der Sendung, an der ich teilgenommen hatte, erhalten hätten. Sie wollten mich daher noch einmal einladen.“
„Und dann wurden Sie zum Star, oder?!“ analysierte Helena mit einem leichten Schmunzeln. Da ihre Augen dabei freundlich lächelten, nahm Kurt die Äußerung auf die humorvolle Art.
„Genau! Na ja – nicht sofort. Allerdings legte ich unbewusst beim zweiten Besuch der Talkshow den Grundstein für meine Fernsehkarriere.“
„Auf die Geschichte bin ich jetzt wirklich gespannt.“
„Der Moderator namens Schmitt fragte mich nach meinen Erfahrungen seit der letzten Sendung. Ich schilderte meine gänzlich neuen Erlebnisse mit der Medienwelt. Ich beschrieb meine Wahrnehmungen und fragte den Moderator wie er als Insider sein Arbeitsumfeld erlebe. Rückblickend kann ich nur feststellen, dass in diesem Moment weder der Moderator noch ich bemerkten, dass das Gespräch sich um 180 Grad drehte. Nachdem ich circa zehn Minuten lang ihn interviewte hatte, wurde mir plötzlich die Paradoxie der Situation deutlich und ich beendete das Gespräch mit einem Satz, der blasses Entsetzen in das Gesicht des Moderators beförderte und das Publikum im Studio zum Kochen brachte.“
Erwartungsvoll schaute Helena Kurt an: „Jetzt spannen Sie mich nicht auf die Folter. Verraten Sie mir den Satz!“
„Vielen Dank, Herr Schmitt, das waren sehr interessante Einblicke, die Sie uns in die Fernsehwelt gewährt haben. Ich danke Ihnen für das Gespräch und schlage vor, dass ich mich jetzt zurückziehe.“
„Wahrscheinlich war Herr Schmitt angesichts Ihres arroganten Auftritts nicht begeistert.“, mutmaßte Helena, „wie ging die Geschichte weiter?“
Während er ihr den weiteren Verlauf schilderte, merkte Kurt erst verspätet, wie ihn die ihm von ihr unterstellte Arroganz verärgerte.
„Nach der Show sprach ich noch mit dem Moderator und dem Chefredakteur Möller. Während Herr Schmitt noch versuchte den Verlauf unseres Interviews zu analysieren, meinte Herr Möller, ich hätte eine bemerkenswerte Gabe, Menschen im Dialog Sicherheit zu vermitteln, so dass sie tiefe Einblicke in ihr Denken und Empfinden gewähren.“
„Lassen Sie mich raten: Daraufhin hat er Ihnen eine eigene Sendung angeboten?“
Mit zynischem Unterton erwiderte Kurt. „Wie weise Sie doch sind. Nicht sofort, aber ein paar Wochen später kam das Angebot.“
Helena merkte seinen Verdruss und lenkte daher den Blick auf seine ersten Schritte als Moderator. „Wenn Sie vorher ungezwungen Menschen in der U-Bahn befragt haben, wie kamen Sie mit der Rolle des Interviewers im Fernsehen klar? Ich stelle mir das schwer vor, da zum einen die Spontaneität nicht mehr vorhanden ist und zum anderen das Gegenüber schon eine Ahnung hat, worüber er befragt wird?“
„Das war nicht leicht. Bei der Konzeption der Sendung haben wir diese Argumente lange hin- und hergewälzt. Damit ich Sicherheit verspüre, stellten wir die Situation in der U-Bahn nach. Dazu wurde ein U-Bahnwagon nachgebaut und in der Mitte durchgeschnitten. Ich hatte jeden Monat eine Sendung und interviewte normale Bürger. Nachdem ich anfangs mit Gästen über deren Berufe, Hobbys und Essgewohnheiten plauderte, wurde ich im Laufe der Zeit mutiger. Themen waren zum Beispiel die Familienverhältnisse und andere persönliche Sachen.“
„Wiederholten sich nicht die Fragenkomplexe und wurde die Sendung auf Dauer nicht abgestumpft?“ fragte Helena mit interessierter Stimme.
„Die Gefahr bestand. Ich griff daher auf mein kabarettistisches Talent zurück und hinterfragte meine Gäste zunehmend in humoristischer und manchmal auch sarkastischer Art.“
„Ihr Erfolg wuchs folglich aus dem Gesichtsverlust anderer“, konstatierte Helena.
„Nein, ich glaube nicht, dass ich jemals mein Gegenüber unter der Gürtellinie traf!“ stellte Kurt mit schnittiger Stimme klar und verstummte.
Helena realisierte, dass sie sich verbal gerade in der Nähe des Hosenbundes bewegte. „Entschuldigen Sie. Meine Wortwahl fiel hart aus. Wie lange betrieben Sie diese Sendung?“
Bemerkenswert, dachte Kurt, die junge Dame kann ja nicht nur Grenzen frech überschreiten, sondern auch minimalistisch Abbitte leisten. „Knapp drei Jahre lang lief meine Talkshow. Nach einiger Zeit modifizierten wir das Konzept und luden norddeutsche Prominente wie Musiker, Schauspieler, Autoren und Politiker ein.“
„Veränderte sich die Gesprächsatmosphäre als Sie statt Privatpersonen nun Prominente zu Gast hatten?“
„Eindeutig. Privatpersonen waren nicht gewohnt vor einer Kamera zu sprechen. Sie scheuten das Scheinwerferlicht. Von daher musste ich eine vertrauensvolle Atmosphäre schaffen, in der die Gäste die Kameras und das ganze Studio drum herum möglichst vergessen und in das Gespräch mit mir abtauchen konnten. Ganz im Gegensatz zu den Promis. Diese sind sich immer der Öffentlichkeit hinter den Kameras bewusst und setzen sich aktiv ins Rampenlicht. Meist musste ich kräftig an der Oberfläche kratzen, um durch eine Hintertür den Blick auf die Rückseite ihrer Seelenkulisse für das Publikum zu erhaschen. Es handelte sich eher um ein Katz- und Mausspiel.“
„Klingt nicht enthusiastisch.“
„Doch, doch. Es beeindruckte mich schon, dass ich als normalsterblicher Bürger, der durch Zufall in eine eigene Talkshow gestolpert war, nun persönlich mit Prominenten sprach. Dieses Privileg schmeichelte meiner Seele und manchmal musste ich mich zuhause in meiner kleinen Butze schon kneifen, um festzustellen, dass dieser Teil meines Lebens real war.“
„Wie kam es zu ihrem Wechsel zu dem Privatsender?“
„Nachdem ich ungefähr drei Jahre im dritten Programm tätig war, bekam ich ein lukratives Angebot. Nicht nur finanziell reizte es mich, sondern ein gänzlich neues Talkshowprofil sollte entwickelt werden. Während der Talkshow wurde nicht nur mit den Gästen geredet, sondern sie wurden mit überraschenden Situationen konfrontiert. Dann galt es zu schauen, ob die Person, sich dieser Situation stellt oder der Konfrontation aus dem Weg geht. Der eine Studiogast sollte eine Vogelspinne anfassen, ein anderer eine Python. Bei einer anderen Person saß plötzlich die Ex-Freundin, die verhasste Schwiegermutter oder der seit langem vermisste Sohn im Studio. Am besten lässt es sich so zusammenfassen: Die spontane Konfrontation von alltäglichen Menschen mit kleinen nicht-alltäglichen Grenzerfahrungen.“
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